Briefe des Vaters

„Nur noch ein Weilchen Geduld…“

Der Briefwechsel zwischen dem sudetendeutschen Antifaschisten Eugen Nelhiebel und seinem damals 17jährigen Sohn Kurt beginnt mit dessen Einberufung zur Wehrmacht im Dezember 1944 und endet im Mai 1945. Die Briefe des Vaters liegen in Original-Durchschrift vor, einer davon im Original. Es ist jener Brief, der dem Sohn das Leben gerettet hat, als er bei der Heimkehr aus Krieg und Gefangenschaft im Mai 1945 tschechischen Partisanen in die Hände fiel.

Die ersten vier Briefe, die der Sohn erwähnt, sind den Wirren der Zeit zum Opfer gefallen. Die Briefe des Sohnes liegen im Original vor. Vorangestellt ist dem Briefwechsel der Glückwunsch des Vaters zum 17. Geburtstag seines Sohnes. Den Abschluss bildet wiederum ein Geburtstagsglückwunsch, diesmal zum 31. Geburtstag des Sohnes, mit einer von Wehmut geprägten Rückschau auf das eigene Leben und das seines Sohnes.

 

Trautenau, den 27. 6. 1944

 

Eugen Nelhiebel

Lieber Kurt!

Ich wünsche Dir zum 17. Geburtstag alles Gute, vor allem Gesundheit und recht viel Glück. Du hast es nötig. Alles Gute, damit Du vom Bösen, Gesundheit, damit Du von Krankheiten und Glück, damit Du vom Unglück verschont bleibst.
Was Du Dir als Geschenk gewünscht hast, ist bereits in Deinem Besitz. Ich würde außerordentlich bedauern, solltest Du durch die Benutzung des Fahrrades Hautabschürfungen oder gar einen Knochenbruch davontragen.
Vermeide alles, was eine Krankheit im Gefolge haben könnte und sieh zu, dass die Kriegsfurie Dich nicht zu ihrem Spielball macht. Du weißt, was ich vom Krieg an und für sich halte. Ich hasse ihn, weil er nur Tod und Zerstörung hinterlässt.
Man müsste alle Kriegstreiber jenem Schicksal überantworten, das insbesondere die ärmeren Volksschichten in Kriegszeiten zu erleiden haben. Man müsste sie mittellos und obdachlos für Jahre machen, damit sie an sich selbst erproben, was sie anderen zynisch zumuten.
Wenn Du an Deinem Geburtstag die vergangenen Jahre überdenkst, so frage Dich, was Dir die Welt bisher bot und was sie Dir versagte. Und dann entschließe Dich, den Plan für das 18. Jahr Deines Lebens zu schmieden. Sofern Du Ziele absteckst, die wir gemeinsam haben – und ich hoffe, dass dem so ist – so wollen wir gemeinsam nach Mitteln und Methoden suchen, es zu erreichen.
In diesem Sinne nochmals alles Gute. Meine Glück- und Segenswünsche begleiten Dich ins weitere Leben.

Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Vater

 

Liegnitz, 15. 12. 1944

Lieber Vater!

Nun bin ich schon drei Tage hier. Inzwischen wurde ich eingekleidet. Die Uniform entspricht dem sechsten Kriegsjahr.
Gestern waren wir zu 40 Mann am Ostwall schippen. Da war um drei Uhr früh Wecken, drei Stunden Bahnfahrt, eine Stunde zu Fuß, dann waren wir an Ort und Stelle. Mitten durch eine Ortschaft bei Fraustadt / Schlesien zog sich der Panzergraben. Durch den Regen hatte sich der Boden in einen zähen Brei verwandelt. Wie Gummi fühlte sich der Lehm an. Zuerst brachte man die Erde nicht auf die Schaufel und dann ging der Dreck nicht runter. Die Begeisterung war „groß“. Neben mir arbeiteten Wiener und Bayern aus der Marschkompanie. Ach haben die gelästert. Die ließen sich von keinem Unteroffizier etwas sagen. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man als 17Jähriger unter den alten Kriegern steht.
Unsere Ausbildung wird ungefähr wie folgt verlaufen: Acht Wochen Ausbildung in der Kaserne, sechs Wochen Ausbildung am Truppenübungsplatz. Nachher gehe ich auf den ROB-Lehrgang, der auch in unserer Kaserne läuft und sechs Monate dauert. Im Ganzen beläuft sich also die Ausbildung auf ein Dreivierteljahr. Na, und bis dahin –
Ich schreibe jeden Tag ein Tagebuch. Das schicke ich Dir dann von einer Woche zu und Du hebst es mir auf. Vielleicht kann ich es später einmal zu nützlicher Arbeit verwenden.
Ich will nun enden; denn ich möchte den Brief noch schnell in der Früh aufgeben.

Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Kurt

(ROB – Abkürzung für Reserveoffiziers-Bewerber)

 

Liegnitz, 17. 12. 1944

Mein lieber Vater!

Recht herzlichen Dank für Deine lieben Zeilen, die mir große Freude bereiteten. Du schreibst von wilden Gerüchten, die von der Bombardierung der Städte Liegnitz, Breslau und Aussig sprechen. Gerüchte gehören sozusagen zum Kriegsgeschehen und bilden eine bedeutende Volksnahrung. Jedes noch so unwahrscheinliche Gerücht wird aufgegriffen und nach Strich und Faden bearbeitet. Ich kenne das zur Genüge. Ich kann Dir nur sagen, Liegnitz und Breslau wurden nicht angegriffen. Es war überhaupt noch kein Alarm hier. Luftwarnung gibt es oft. Gestern zum Beispiel dreimal. Das ist auch alles.
Ich glaube Dir, wenn Du schreibst, dass Du Dein Herz tarntest, als ich mit Dir zum Bahnhof ging. Der Krieg ist furchtbar. Ja! Man muss sich mit der Wirklichkeit vertraut machen, muss sich an sie gewöhnen, dann wird sie einem nicht gefährlich. Ich will versuchen, die Kaserne lieben zu lernen. Es wird schwer sein, aber ich will es trotzdem tun.
Wenn ich manchmal früh wach im Bett liege und mir alles überlege wird mir so seltsam zu Mute. Ich denke an zu Hause, an die Berge, an Bausnitz, an die Zeit, in der man sorglos durch die Welt tollte. Kommt die Zeit noch einmal wieder, da man froh und unbekümmert seinen Weg geht? Seinen eigenen Willen durchsetzen und frei sein können! Wie ein Kuli irgendwelchen verkrachten Existenzen dienen und tun müssen, was s i e wollen – das fällt mir schwer und ich möchte manchmal aufschäumen. Dann sage ich mir immer: Stur sein.
In wenigen Tagen ist Weihnachten, das erste Mal, dass ich sie nicht zu Hause verbringen kann. Aber in Gedanken werde ich bei Euch sein. Richte Mama aus, sie solle Margit und Oma nicht den Heiligen Abend verderben. Sie soll stark sein. Wir wollen hoffen, dass es die letzten Weihnachten sind, die unter der Glocke des Krieges gefeiert werden. Eine siebte Kriegsweihnacht dürften wir wohl nicht mehr erleben. Ach, ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie das ist . . . Frieden. Es wird bald so sein, dass die kleinen Kinder wie im 30jährigen Krieg fragen: Was ist denn Frieden?
Die Weltenuhr dreht sich, und einmal kommt der Tag, an dem Millionen den grauen Rock ausziehen, gern ausziehen. Ich glaube, es wird ein gewaltiges Aufatmen sein in Stadt und Land. Die Menschen werden sich aus ihrer gebückten Haltung aufrichten, werden frohen Auges in eine Zukunft sehen, die keine Todesnachrichten, keinen Schmerz mehr bringt. Das Volk wird von der Waffe zur Arbeit greifen, die turmhoch vorhanden sein wird, wenn aus den Ruinen unserer Städte neue rote Ziegelmauern emporwachsen, wenn die Menschen wieder mit frohen Gesichtern durch den Alltag schreiten. Vieles wird ungewohnt sein – – Ich glaube, ich bin ins Träumen geraten. Das ist gar nicht schwer, wenn die ersten Weihnachtslieder aus dem Lautsprecher nebenan ertönen.
Lieber Vater, ich kann Dir kein anderes Weihnachtsgeschenk machen als das Versprechen, stets daran zu denken, dass ich wieder gesund zu Euch nach Hause kommen muss. Ich will versuchen, alle Lebenslagen zu meistern, dem Schicksal zum Trotz, das verspreche ich Dir. Ich will hart bleiben und mich nicht unterkriegen lassen. Mit diesem Willen im Herzen will ich auch das Weihnachtsfest begehen, zu dem ich Dir alles Gute und recht viel Glück, Gesundheit und Zufriedenheit wünsche.

Dein Sohn Kurt

 

Liegnitz, 21. 12. 1944

Lieber Vater,

da ich gerade Zeit habe und allein auf der Stube bin, will ich Dir einige Zeilen schreiben. Die anderen sind schon seit sieben Uhr morgens draußen im Gelände. Ich war in der Stadt beim Optiker. Meine Brille, die ich bekommen werde, hat 9,5 Dioptrie. Mit dem rechten Auge habe ich dann volle Sehschärfe. Die Gläser erhalte ich vielleicht erst in acht Wochen. Bis dahin darf ich nicht abgestellt werden. Das würde ich sowieso nicht, da wir ohnehin noch eine Zeit in der Kaserne sind.
Gestern wurden wir vereidigt und hatte nachher dienstfrei. Bis dato habe ich noch nicht mir der Ausbildung begonnen. Es sind nun schon zehn Tage, die wir hier sozusagen vertrödelt haben. Manche Leute wären in der Heimat besser eingesetzt und ihre Arbeitskraft dort besser genutzt, als bei der Wehrmacht.
Am 20. hatten wir schon eine Weihnachtsfeier. Da gab es gut zu essen. Am Heiligen Abend bekommen wir noch Schnaps und Gebäck. Einen Christbaum werden wir auf der Stube wohl nicht haben. Trotzdem wollen wir es uns gemütlich machen.
Was sagst Du zu den gegenwärtigen Ereignissen an der Westfront? Ich glaube, es ist nichts anderes als ein verzweifeltes Aufbäumen gegen die Übermacht, das gerade zu einem Zeitpunkt gestartet wurde, an dem das Volk eine Nachricht braucht, die die Stimmung wieder etwas hebt, zu Weihnachten. Wir haben nämlich auf der Stube ein kleines Radio, das sich unser Feinmechaniker selbst gebaut hat. Da hören wir immer Musik und Nachrichten.
Wie ist die Stimmung zu Hause? Mit welchen Gefühlen begeht man bei Euch Weihnachten? Hier herrscht die Ansicht, dass der Krieg in einigen Monaten aus ist. Das hört man allgemein.
Ich schicke Dir heute ein kleines Gedicht mit, das ich vor einer Weile geschrieben habe. Hoffentlich fällst Du kein allzu hartes Urteil. Vielleicht erhältst Du den Brief noch vor Sonntag. Dann wünsche ich Dir nochmals alles Gute zu Weihnachten.

Dein Sohn Kurt.

Anbei ein kleines Bild, das mich darstellen soll.
Wie ein Jüd sehe ich aus.
Vielleicht ist es noch zu
etwas gut.

Die Nachricht von Onkels Heldentode hat mich sehr erschüttert. Ich kann den Schmerz von Tante Pepi nur zu gut ermessen.

 

Liegnitz, 24. 12. 1944

Lieber Vater!

Für Deine Zeilen recht herzlich Dank. Sie bereiteten mir große Freude.
Heute ist heiliger Abend. Wir hatten erst um sieben Uhr Wecken und vormittags nur zwei Stunden Dienst. Wir bekommen heute noch jeder zwei Tüten Gebäck und abends gibt es pro Kopf fünf Schnäpse und einen Liter Starkbier. Um 17 Uhr steigt ein Festessen mit weißen Bratwürstchen und allem was dazu gehört. Also, ein besseres Essen konnte es zu Hause auch nicht geben. Auf der Stube haben wir nun doch einen Christbaum. Lametta haben wir leider keines. Aber Gott sei Dank bekamen wir gestern Käse. Du wirst denken – Käse? Wozu? Ganz einfach. Der Käse war in Stanniolpapier eingepackt. In dünne Streifen geschnitten lieferte es unseren Christbaumschmuck.
Gerade ertönt aus dem Lautsprecher das Lied von der stillen heiligen Nacht – Weihnachtsstimmung – die Gedanken eilen nach Hause. Ich sehe im Augenblick von der Eisenbahnhaltestelle ins Dorf, nach Bausnitz, sehe jedes Haus. Alles ist so vertraut. Ich fühle direkt die Stille, die über dem Tal liegt. Ich gehe im Geiste durch die vertrauten Winkel, in denen ich als Kind gespielt und gelacht habe. Ich mache im Geiste den altvertrauten Schulweg, den ich vielhundertmal gegangen bin. Jeden Baum und jeden Stein kenne ich. Ach ja, es ist schön, so zu träumen von einer längst vergangenen Zeit.
Nun zu Deinem Brief. Ja, wir haben ein Radio bei uns auf der Stube. „Das Reich“ kann ich leider nicht lesen. Wo meine Professoren sind weiß ich nicht. Unter uns Jungen sind drei ältere Leute. Es herrscht ein kameradschaftlicher Kontakt. Du fragst, ob ich Zeit habe, Deine Briefe zu lesen. Ach, die könnten dreimal so lang sein. Und wenn ich sie abends im Bett lesen müsste. Übrigens haben wir um 18 Uhr Dienstschluss und um 22 Uhr ist Zapfenstreich. Das sind vier Stunden.
Für Unterhaltung ist bei uns gesorgt. Morgen zum Beispiel haben wir dreimal Kino. Und bequem haben wir es auch, das Kino liegt auf demselben Korridor einige Türen weiter. Das ist ein richtiges Kino mit zwei Apparaten. Morgen werden drei verschiedene Filme gezeigt und übermorgen drei andere. Schöne Unterhaltungsfilme.
Unser Chef ist ein prima Kerl. Noch ein junger Mensch. Die Waschanlagen sind modern und das Klosett hat Wasserspülung. Alles liegt auf unserem Korridor. Also viel bequemer als beim RAD. Hier habe ich auch endlich Gelegenheit, Schachspielen zu lernen.
Nun will ich schließen, denn ich will noch Mama, Herbert und Ernst schreiben.

Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Kurt

 

Ohne Datum und Ort

Lieber Vater!

Ich danke Dir für Deinen lieben Brief vom 21. 12., der mir, wie alle Deine Briefe, große Freude bereitete. Er war mir ein lieber Gruß aus der Heimat. Dass Dir meine ersten Zeilen des Tagebuches gut gefallen haben, ist das schönste Lob für mich. In einem gesonderten Brief schicke ich Dir die nächsten Blätter. Aus ihnen kannst Du sehr viel ersehen, was ich in keinem Brief schreibe. Das wirst Du sicher bald merken.
Zu Weihnachten war es bei uns recht gemütlich. Ich hätte kaum gedacht, dass ich so ein schönes Weihnachtsfest auch fern vom heimatlichen Herd verleben würde. Ich gestehe, dass meine letzten Weihnachten zu Hause nicht so schön für mich waren. Wir waren alle recht lustig, am meisten ich, denn ich hatte meine Schnapszuteilung mit einem Teelöffel zu mir genommen. Die Wirkung zeigt sich sehr bald; ich wurde „etwas“ angeheitert. Die Beine wollten nicht, wie ich es wollte, sondern gingen ihren eigenen Gang. Das war ein komisches Gefühl. Wir haben alle sehr gelacht. Keiner wurde weich oder gar sentimental. Als ich anfing, in meiner Beschwingtheit Karikaturen zu zeichnen, wollte das Lachen kein Ende nehmen. Trotz allem wusste ich immer, was ich machte. Eine Weihnacht im frohen Kameradenkreis ist schön.
An den beiden Feiertagen habe ich richtig gefaulenzt. Dafür geht es morgen früh schon um Sieben hinaus ins Gelände zu einer Gefechtsübung, die bis zwölf Uhr dauert. Da werden sie unsere über die Feiertage etwas eingerosteten Knochen wieder so richtig in Schwung bringen.
Das Funken macht mir recht viel Spaß. Und wenn man für etwas Begeisterung empfindet, dann fällt es einem nicht schwer, zu begreifen.

Ich will Dir nun schildern, mit welchen Leuten ich zusammenlebe. Das ist zuerst unser Stubenältester, ein Gefreiter. Er ist Lokführer und hat schon gedient, wurde uk gestellt (uk – unabkömmlich) und nun wieder eingezogen. Er ist aus Breslau. Ein patenter Kerl. Dann ein Reichsbahn-Oberinspektor, auch aus Breslau, ebenso wie der Feinmechaniker Simon. Beide sind ältere Jahrgänge. Über 70 Jahre. Dann sind noch junge Leute da. Zwei Kerle aus Troppau. Ein WO-Schüler und ein Verwaltungslehrling. Der Mechanikergeselle ist aus Nesselsdorf im Sudetenland. Ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Dann sind da noch drei Oberschlesier, ein Schüler und zwei Elektriker. Die Troppauer sind meine besten Freunde, weil sie aus dem Sudetenland sind. Das verbindet. Im Ganzen herrscht eine prima Kameradschaft. Und das ist die Hauptsache für ein erträgliches Zusammenleben und Verstehen.

So, nun möchte ich schließen. Mein nächster Brief hat wieder anderen Charakter. Alles Gute und einen guten Rutsch ins Neue Jahr wünscht Dir Dein Sohn Kurt.

(WO –Abkürzung für Wirtschaftsoberschule)

 

Liegnitz, 29. 12. 1944

Lieber Vater!

Für Deinen Brief vom 26. 12. danke ich Dir von Herzen. Ich will nun daran gehen, ihn zu beantworten.
Erstens wollen wir nicht von verständnisvollen Vorgesetzten sprechen. Die sind jetzt sehr rar bei der Wehrmacht. Wenn 20jährige Spunde Vierzigjährige, Diplomaten, Rechtsgelehrte und sonstige Kapazitäten auf den verschiedensten Gebieten, kommandieren, dann kann man von keinem Verständnis sprechen. Dazu ist der Gegensatz zu krass.
In meiner dienstfreien Zeit schreibe ich meistens oder lese Bücher. Manchmal gehe ich in unser Kino. Dass Dir mein Gedicht gefallen hat, ist die schönste Auszeichnung für mich. Ich weiß, dass Du etwas von diesen Sachen verstehst und bestimmt kein falsches Urteil fällst.
Um auf die Gehaltserhöhung zu sprechen zu kommen. In meinen Augen ist das eine Schweinerei, wie wir hier zu sagen pflegen. Ich weiß, ebenso wie alle anderen bei Euch im Betrieb, was Du leistest, habe ich Dich doch oft bei der Arbeit beobachten können. Ich glaube, es geschah mit voller Absicht, auf Betreiben gewisser Elemente, dass man Dich bei der Gehaltserhöhung geflissentlich übersehen hat. Aber ich habe so das Gefühl, dass Du Dir auch dieses noch erkämpfen wirst. Allem Anschein nach weiß die Firma nicht, was sie an Dir hat. Dass dabei verschiedene politische Momente eine Rolle spielen, ist wohl selbstverständlich. Aber ich nehme an, dass einmal andere Zeiten kommen. Dann werden viele Ungerechtigkeiten gesühnt werden!
Lieber Vater, bitte sei mir nicht bös, wenn ich eine Stelle Deines Briefes korrigiere. Ich täte es nicht, wenn Du nicht gesagt hättest, Du wärst gern bereit, auch von der Jugend zu lernen. Du schreibst in Deinem Brief: „Ich möchte, wie ein großer deutscher Philosoph sagte, auch sagen: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.’“ Nun, dazu bemerke ich: Der Ausdruck: Ich weiß, dass ich nichts weiß, stammt von dem großen griechischen Denker und Philosophen Sokrates, der wegen Verfechtung seiner neuen umwälzenden Anschauungen gefangen gesetzt wurde und den Giftbecher trinken musste. Das weiß ich aus dem Geschichtsunterricht bei Dr. Klinger.
Hoffentlich bist Du mir ob dieser Berichtigung nicht böse.
Was ist eigentlich mit der Westoffensive? Man hört nicht mehr viel. So gehen wir denn dem Ende des alten Jahres entgegen. Was hat es uns gebracht und was genommen? Wir wollen mit gläubigem Herzen ins Neue Jahr gehen. Hoffentlich bringt es den Anfang einer besseren Zeit.

Viel Glück im Neuen Jahr wünscht Dir Dein Sohn Kurt

 

Liegnitz, 31. 12. 1944

Lieber Vater!

Ich danke Dir für Deine Zeilen vom 29. 12., die ich gestern erhielt. Ich will sie nun kurz beantworten.
Es ist für mich immer eine besondere Freude zu hören, dass Dir meine Schilderungen gefallen. Dass es gerade die Heimat ist, um die meine Gedanken immer kreisen, wird vielleicht mancher nicht verstehen. Ich glaube annehmen zu können, dass der Betreffende entweder keine Heimat hat oder zu so einem Gefühl überhaupt nicht fähig ist. Für mich jedenfalls ist die Heimat zurzeit das Teuerste, das ich besitze. Die Berge, die Aupa, die Täler, der dunkle Fichtenwald, ja, dort bin ich zu Hause. Es gibt bestimmt viele Orte auf der Welt, die schöner sind als mein Bausnitz, trotzdem ist es dort am schönsten. Und falls ich einmal irgendwo draußen eine Stellung haben sollte, werde ich immer – das kannst Du mir glauben – wenn ich nur Zeit habe, dorthin fahren, wo ich meine Jugend verlebt habe.
Ich schreibe Dir diese Zeilen in den letzten Stunden des Jahres 1944, das sich nun anschickt, zur Rüste zu gehen. Ich war eben draußen vor der Tür. Wir hatten Luftschutzbereitschaft, denn bei uns war L 30. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen standen wir da. Lautlos schwebten weiße Flocken vom Himmel und bauten langsam eine Schicht auf unsere Helme. Tief vergruben wir unsere Hände in den Taschen; denn langsam kroch die Kälte an den Beinen hoch. Ich glaube, nicht falsch beobachtet zu haben, wie aller Augen in die Weite gerichtet waren. Und ich weiß auch, wo die Gedanken meiner Kameraden gewesen sind. Daheim.
Lieber Vater, ich danke Dir für die Socken und die Ohrenschützer. Sie kamen wie ein Geschenk des Himmels; denn morgen geht’s hinaus in die Bunker. Bei der Kälte wäre das kein Vergnügen geworden. Den Guglhupf habe ich noch nicht bekommen. Schreibe ruhig an meine jetzige Adresse. Die Post wird uns nachgeschickt.
Anbei findest Du zwei Bilder von mir. Ich glaube, dass ich darauf etwas besser getroffen bin. Ich war in der Stadt beim Photomaton. Da hast du in acht Minuten vier Bilder. Alle verschieden. Mama schicke ich zwei davon und Dir zwei.
So, nun will ich zum Ende kommen. In zwei Stunden geht das alte Jahr zu Ende. Ich grüße Dich auf das herzlichste und wünsche Dir ein frohes Neues Jahr. Dein Sohn Kurt ( Die erwähnten Briefe des Vaters liegen nicht vor.)

 

Trautenau, den 1. Jänner 1945

Lieber Kurt!

Es ist eben 17 Uhr vorbei. Mein Tagewerk ist getan. Also will ich Dir, ehe ich zum Zug eile, danken für Deine lieben Zeilen vom 29. 12., die ich heute früh im Schließfach fand. Die heute von mir geleistete Arbeit musste ich auf gestern buchen, denn heute gäbe es 100 % Zuschlag. Und ich hatte gestern eine private Reise zur Familie Hafner nach Hohenelbe unternommen. Sie hat mich seelisch etwas restauriert. Der Magen kam auch entsprechend auf die Rechnung. Um Mitternacht kam ich heim und hörte noch die Führerrede, die ich heute um 10 und zu Mittag noch einmal durch mein Hirn gehen ließ.
Ich will zu Deinen Zeilen sagen, dass sie mich nicht nur freuen. Sie wirken tiefer. Deine Briefe sind interessant und Du lernst beobachten. Besten Dank für die Korrektur. Ich habe an Kant gedacht, dabei handelte es sich um Sokrates. Das beweist, dass man zuviel allein ist. Behalte auch alle anderen Dinge im Kopf, die Dir die Schule vermittelte.
Was Du zu meiner Gehaltsfrage sagst, beweist Dein soziales Fühlen und Denken. Ich danke für Dein Verständnis. Im Büro kann ich auf Solidaritätsbekundungen nicht rechnen. Man hat existenzielle Angst. So ist es leider. Nun, kommt Zeit, kommt Rat. Ich werde die Angelegenheit nicht aus dem Auge lassen, nicht etwa der paar Mark sondern einer anderen Sache wegen. Ich habe es satt, mich immer wieder demütigen und auspumpen zu lassen.
Sollte ich mich bei unseren Diskussionen irgendwann irgendwie irren, so hast Du Vollmacht, mich zu berichtigen. Ich bin nur ein Mensch. Ich schätze sehr die Form, die Du in dem heute erhaltenen Brief gewählt hast.
Kannst Du Dir Diplomaten als Rekruten vorstellen oder irgendwelche wissenschaftliche Experten am Kasernenhof exerzieren sehen? Spaßig! Wäre dem so, wären wir in der Tat ein Volk in Waffen. Alles soll seine Grenzen haben. Jeder auf seinen Platz. Wenn ein Mann mit ganz unscheinbarer Bildung den Diplomaten kommandiert, so wird der Diplomat erst wirklich Diplomat. Bekanntlich denken diese immer etwas anderes als sie sagen, wenn sie beruflich exponiert sind. So erfahren sie, was der Partner denkt. Und dieser ist auch kein Affe, weshalb das Katz- und Maus-Spiel so lange geht, bis einer aus dem anderen herausgezogen hat, was er zu wissen wünschte. Mich widert diese Art Berufsdiplomatie an Man soll sagen, was man will und basta. Entweder man bekommt es, oder man bekommt es auch mittels eines Krieges nicht.
Ich war immer ein Feind der Geheimdiplomatie. Das Volk hat ein Recht zu wissen, was mit ihm gespielt wird. Ein Volk ist zu gut, als dass man es zum Spielball diplomatischer Intrigen macht.
Es ist gleich 17 Uhr 45. Der Zug geht um 18 Uhr. Also, mein Junge, nimm diese Zeilen als Neujahrsgruß zur Kenntnis, lasse es Dir gut gehen und sei herzlichst gegrüßt.

 

Bienau, 3. 1. 1945

Lieber Vater!

Wenn Du jetzt vierzehn Tage nicht so viel Post von mir bekommst mach’ Dir keinen Kummer. Wir sind außerhalb von Liegnitz in Bunkern. Da ist keine Zeit zum Schreiben.
Wir wohnen sehr primitiv. Der Ofen raucht wie toll. Die Betten klein. Licht ist auch wenig. Alles ist sehr umständlich. Schreibe an meine alte Adresse.

Herzliche Grüße Kurt

 

Trautenau, den 4. 1. 1945

Lieber Kurt!

Mit großer Freude und Dank quittiere ich den Erhalt Deiner lieben Zeilen vom 31. v. M. und der Fortsetzung Deines „Romans“. Auf den Inhalt der letzteren will ich nicht eingehen, sondern nur sagen, dass sie sehr interessant und es wert sind, nach entsprechender Zeit ans Licht des Tages gebracht zu werden. Lasse es Dich nicht verdrießen, alle Episoden zu erfassen, die der Nachwelt zu überliefern sind. Nicht alle Tage gibt es etwas Besonderes zu vermerken. Zuweilen aber gibt es an einem Tag einige Besonderheiten. Wenn Du an die Redigierung des Urtextes gehen wirst, wirst Du manches weniger Wichtige streichen und Neues hinzufügen. Du wirst dann rückblickend beurteilen, was literarisch von Wert ist. Heute stehst Du inmitten des Tages, später wirst Du den heute wichtigen Dingen jenen Rang zuteilen, der ihnen von einer historischen Warte aus gesehen gebührt. Heute bist Du Chronist, morgen Historiker.
Nun zu Deinem lieben Brief. Deine Gedanken über das Heimatgefühl verdienen publiziert zu werden. Wäre ich irgendwo Chefredakteur, geschähe dem auch so. Leider finden die heutigen Journalisten wenig Verständnis für Bekenntnisse Deiner Art. Aber es wird eine Zeit kommen, da werden sie nach Deiner Meinung fragen. Du kannst ihnen dann anhand Deiner heute geschriebenen Briefe nachweisen, wie Du über die Heimat dachtest, als Du fern von ihr weiltest. Ich bin überzeugt, dass es in Bausnitz niemanden gibt, der sich des Wertes seiner Heimat bewusst ist. Du bist ebenso wenig irgendeiner Art von Gefühlsduselei verfallen wie ich, und trotzdem wissen wir zu bekennen, was wir an einem Stückchen Erde finden, die wir lieben gelernt haben.
Die Ortsansässigen haben dafür leider wenig oder gar kein Verständnis. Sie werden Dich immer als den „Zugereisten“ behandeln und Dir nicht nur das Wohnen verleiden, sondern darüber hinaus aus Neid auch die Existenz erschüttern, wo und wie sie nur können. Dagegen heißt es, sich zu wappnen. „Wissen ist Macht!“ Also heißt es zu lernen, um mit Verstand und Vernunft Herr über jene zu werden, die es nicht weiter brachten als zu Herdenmenschen. Erst wenn du oben bist anerkennen sie dich. Sie lieben dich dann vielleicht so wenig wie einst, aber sie wagen nicht, dich zu bekämpfen. Manche bekommen dann Furcht vor dir und ducken sich. Das sind die Schlimmsten und Gefährlichsten, weil sie der Neid und der Hass regiert. Aber auch ihrer kann man Herr werden. Erkläre mir bitte die Bedeutung von L 15, L 20, L 30 usw. Ich höre öfter davon, erst gestern in Hohenelbe, wo L 15 war. Was es bedeutet, weiß ich leider nicht. Es freut mich sehr, dass die Socken und die Ohrenschützer gelegen kamen. Im Büro hörte ich, dass Soldaten Ohrenschützer nicht tragen dürfen. Ist das richtig? Ich schreibe Mutter, sie soll aus alter Wolle etwas für Dich machen. Könntest Du nicht Fußlappen in die Stiefel ziehen? Über die Socken z.B.? Da könnten wir Dir irgendwie helfen. Ich trug als Soldat in den Schuhen auch Fußlappen, da ich an einem 4. Jänner (wie heute) 1917 einzurücken hatte. Man legt den Lappen wie ein auf der Spitze stehendes Rechteck auf, faltet die linke Ecke nach rechts, die rechte Ecke nach links, dann die obere Spitze über den Fuß und die untere Spitze entlang der Achillessehne hoch. Der Fuß ist so gut eingepackt und bleibt warm. Wer sich allerdings mehrere Paar Socken leisten kann, bei dem geht es einfacher.
Deine Bilder haben mir eine sehr große Freude bereitet. Besonders die Profilaufnahme ist ausgezeichnet. Schade, dass Du nicht zwanzig Stück hast.
Vorgestern. Dienstag, nachmittags war Ossi bei mir. (Ein Jugendfreund Kurts, d.Hg.) Ich habe mich über seinen Besuch sehr gefreut. Er ist ganz niedergeschlagen, dass er Dich nicht zu Hause antraf. Er meinte, Du müsstest doch über Weihnachten noch dageblieben sein, wenn Du erst kurz vorher vom RAD kamst. Es gefällt ihm gar nicht daheim. Weil Du nicht hier bist. Er hat niemanden, mit dem er sich aussprechen könnte. Er erzählte mir von Euren Streichen und wie ihr Euch gut verstanden habt. Sein letzter Urlaub, den er noch in Deiner Gesellschaft verbringen konnte, ist ihm in lebhaftester Erinnerung. Indes er daheim weilt, war ein sehr schwerer Angriff auf Kassel. Er meinte, dass nicht mehr viel zum Zerschlagen war. Die letzte Aktion war auf sieben Einflüge berechnet, die vorher mit Flugzetteln angekündigt und auch präzis durchgeführt wurden. Zum Glück trafen sie das Werk, in welchem Ossi arbeitet, nicht. Wir unterhielten uns auch über die Luftwaffe und ihre Einsatzfähigkeit. Er berichtet, dass wir zuviel verschiedene Typen bauen, anstatt eine gute Type herauszubringen und diese in Serie aufzulegen. Es wird zuviel experimentiert. Trotz seiner Jugend hat er den Eindruck, dass nicht die Interessen des Luftmarschalls, sondern jene einzelner Fabrikanten vertreten werden. Es gelangt nicht das zum Bau, was wehrmäßig nützt, sondern was den Lieferanten bzw. den Erzeugern den größten Gewinn einbringt.
Der Krieg gewinnt für diesen jungen Menschen so den Charakter eines Geschäftes schlechthin, bei dem nicht gerade eine saubere Moral herrscht. Man will am Krieg verdienen. Dieser Business-Standpunkt wird den Amerikanern mit Recht vorgehalten, sollte aber auch bei uns ausgemerzt werden. Die amerikanischen Plutokraten nennen den Krieg ein „großes Geschäft mit dem Tode“.
Da kannst Du sehen, was Idealismus und was Geschäftsgier ist. Der Opfersinn, der Heldenmut und der Opfertod der Soldaten wie der Nation an sich werden so in den Dreck gezerrt. Wofür kämpfen, wofür sterben wir, wenn man Erscheinungen am deutschen Kriegswirtschaftskörper sieht, die sich von jenen des Feindes durch nichts unterscheiden? Der Gott der Kriegshetzer ist der Mammon. Ihn beten sie an und die Angehörigen der Krüppel und der Gefallenen trösten sie mit vaterländischen Phrasen. Damit sollte man gründlich aufräumen. Man sollte die Rüstungsindustrie verstaatlichen, um den Schlotbaronen ihr schmutziges Handwerk zu legen. Was die Herren Industriekapitäne an Gewinn einheimsen, könnte dem Staate zugute kommen. Es könnten dann noch mehr und noch bessere soziale Einrichtungen geschaffen oder das Lohnniveau gehoben werden, damit die werktätigen Schichten einen höheren Lebensstandard erreichen.
Die Wohnung ist kalt, wenn ich heim komme. Mit Mantel und Kopfbedeckung angetan studiere ich die Zeitungen, wobei ich überwiegend nur die Leitartikel, die wichtigsten politischen Meldungen, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Kulturrubrik durchnehme. Wenn man sich dann ins eiskalte Bett legt und früh wieder die Gänsehaut bewundern kann, sagt man sich, es ist nicht schön, allein zu sein. Aber, es geht alles vorüber, es geht alles vorbei . . . Ich habe den Soldatensender „Italien“ entdeckt. Mittelwelle 491. Herrliches Unterhaltungsprogramm ab 20 bis 21 Uhr oder 22 Uhr. Einen anderen Soldatensender bekomme ich über Graz. Ab 21 Uhr. Auch fabelhafte Musik. Leicht aber schön. Wie gefällt Dir Liegnitz? Und hast Du den Koffer mit den Zivilsachen schon heimgeschickt?

Ich wünsche Dir alles Gute und grüße Dich herzlichst.

 

Bienau, 4. 1. 45, fünf Uhr früh

Lieber Vater!

Gestern Abend gegen 22 Uhr brachte mir unser Unteroffizier Deine zwei Briefe in den Bunker. Ich schlief schon fast. Jedoch als ich meinen Namen hörte, fuhr ich aus dem Bett (Holzgestell) heraus wie ein geölter Blitz. Dabei habe ich mit der Balkendecke „etwas“ Berührung bekommen.
Weißt Du was, ich werde in diesen zwei Wochen mein Tagebuch weniger ausführlich halten, dafür aber in den Briefen weiter ausschweifen. Beides kann ich nicht, dazu reicht die Zeit nicht aus.
Nach einem zweieinhalbstündigen Marsch über schneeverwehte Straßen langte unser Zug in Bienau an. Das ist ein kleines Dorf bei Liegnitz. Unsere Bunker liegen außerhalb des Ortes in einer Sandgrube. Wir leben hier fast wie die ersten Menschen. Unser Asyl misst drei mal vier Meter, die Hälfte unserer Küche daheim. Darin hausen sechs Mann. Als wir in der Früh aufstanden, war die Tür und das Fenster ganz verweht. Im Dorf organisieren wir fest Heizmaterial.
Heute habe ich den ganzen Tag in der Küche geholfen. Das hat mir gut gefallen. Der Koch ist aus dem Altvatergebirge. Für eine Zigarette bekam ich von ihm alles. Das Gulasch war gut, die süßen Milchnudeln, der Kunsthonig und die Gurken auch.
Mit unserem Bunkerältesten stehe ich auf Kriegsfuß, auch mit unserem Korporal. Der sagte schon am ersten Tag: Nelhiebel, passen Sie auf, wir werden noch gute Freunde. Mich rührt das alles nicht. Ich bin ihm zu stur, lasse mich durch nichts aus der Ruhe bringen. Und das regt sie auf. Der Obergefreite sagt immer, ich benähme mich noch immer wie ein Zivilist. Das Schönste dabei ist, dass ich in unserer Korporalschaft der Beste im Funken bin.
Gestern Nacht stand ich zum ersten Male Wache. Heute Abend musste ich zu einem Bunker, der in einem mir völlig unbekannten Gelände lag. Alles verweht. Verschwitzt kam ich an. Morgen geht’s zum Scharfschießen. Wieder so weit laufen in meinen elenden Schuhen. Ich habe einen mistigen Husten. Ich schlafe schon fast ein beim Schreiben.

Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 7. 1. 45

Lieber Kurt!

Wieder ist es 17 Uhr 20 und ich eile, Dir für Deine Lieben Zeilen und Dein Gedicht zu danken. Einen Durchschlag des Gedichts sende ich Dir, damit Du vergleichen kannst, ob und was ich korrigieren musste. Es ist wiederum ein Beweis Deines starken Heimatgefühls und ein Bekenntnis zur Einsamkeit als der wahrsten Bundesgenossin des Lebens. Wer Deine Jugend kennt und weiß, dass Du eigentlich nicht neben Vater und Mutter sondern leider zwischen dieser und jenem aufwuchst, wird erst ermessen können, wie viel Innigkeit Du in die Verse legst und wie stark Du der Natur verbunden bist. Deine Gedichte sagen auch, dass der Wehrdienst Dich nicht beeinflusst, Dich einer gewissen „Kriegspoesie“ zu widmen, sondern dass Du bei allem den ewigen Dingen zwischen Himmel und Erde zuneigst.
Deine letzte Arbeit war etwas eilig geschrieben. Ich meine nicht allein die äußere Form, sondern den logischen Aufbau der Verse. Lasse Dich nicht hetzen. Wenn Du Ideen entwickelst, notiere sie und mache ein Fragment. Wenn wieder ruhige Tage sind, kannst Du schleifen und umbauen. Für heute, mein Junge, muss ich schließen. Brauchst Du Schreibpapier, Bleistift und Umschläge?
Ich wünsche Dir alles Gute und grüße Dich aufs herzlichste.

 

Bienau, 7. 1. 1945

Lieber Vater!

Für Deine Brief vom 4. 1. herzlichen Dank. Du kannst Dir vielleicht nicht vorstellen, welche Freude Du mir mit Deinen Zeilen immer bereitest, sind sie doch ein lieber Gruß von daheim. Wenn ich sie lese, stelle ich mir vor, Du sprächest mit mir.
Doch ich will gleich zur Sache kommen und Deine Fragen beantworten. L 15 bedeutet, dass die einfliegenden Feindverbände 15 Flugminuten entfernt sind, das heißt, in 15 Minuten können die Flieger da sein. Bei L 20 oder L 30 ist es Dasselbe, nur dass es sich dabei um 20 oder 30 Minuten handelt. Ohrenschützer dürfen wir tragen wenn es kalt ist. Wenn man mich fragt, weshalb ich sie aufsetze, auch wenn die anderen es nicht tun, dann sage ich einfach, ich hätte ein Ohrenleiden. Fertig. Man muss sich nur auskennen.
Fußlappen trage ich schon seit meiner RAD-Zeit. (RAD – Reichs-Arbeits-Dienst) Ich habe auch genügend mit. Du brauchst also keine zu schicken. Den Gugelhupf habe ich zu Neujahr erhalten. Bilder kann ich leider nicht nachbestellen, das geht bei einem Photomaton nicht. Auch für mich ist es sehr bedauerlich, dass ich Ossi nicht treffen konnte. Und es wird wohl noch sehr lange dauern, bis es einmal der Fall sein wird. Wegen meines Koffers mache ich folgenden Vorschlag: Vielleicht kannst Du mich in drei oder vier Wochen einmal besuchen, da könntest Du den Koffer mitnehmen. Ihn zu schicken, ist mir zu riskant.
Wieder geht ein Tag zu Ende, ein Sonntag. Es ist gerade 20 Uhr. Einige sind ins Dorf ein Bier trinken gegangen, die anderen sitzen an dem kleinen Tisch und schreiben oder lesen. Aus der Ecke tönt tiefes Schnarchen. Einer hat sich schon in die Koje verkrochen. Heute haben wir wenigstens eine ruhige Nacht vor uns. Jeden zweiten Tag sind wir dran, Posten zu stehen. In den nächsten Tagen werde ich nicht dazu kommen zu schreiben, denn wir haben drei Tage Funkübung. Tag und Nacht. Da gibt es keinen Schlaf. Deswegen möchte ich schon schließen. Ich will in mein Bett kriechen.

Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 9. 1. 1945

Lieber Kurt!

Ich danke Dir bestens für Deine lieben Zeilen vom 4. d. M. und nehme mit Sorge von einer gewissen Entwicklung Kenntnis, die Deine Person zum Gegenstand hat.
Ich bringe Dir die charakterliche Klassifizierung Deines letzten Schulzeugnisses in Erinnerung und lege Dir sehr ans Herz, allen jenen, die Dich nicht gerade milde „schwarz auf weiß“ festgelegt hatten, das Gegenteil zu beweisen. Du sollst in der Schule „zu wenig gründlich“ und „zu wenig fleißig“ gewesen sein.
Ich weiß, warum man Dich so klassifizierte und ich bin überzeugt, dass derselbe Geist Dich auch zum Wehrdienst begleitet hat, um Dir das Leben nicht leicht zu machen. Es liegt in Deiner Hand, sich dieses Wesens zu entledigen dadurch, dass Du niemandem Anlass bietest, gegen Dich dienstlich oder persönlich vorzugehen. Ein persönlicher Konflikt wird, wenn er unter wirklichen Kameraden ausgetragen wurde, freundschaftlich begraben und dient als Mittel der menschlichen Erfahrung, wie man es beim nächsten Mal nicht machen soll. Sorge dafür, dass man Dich allgemein ins Herz schließt. Krieche nicht, sei korrekt, aber nicht großmannssüchtig. Gewinne Dir die Herzen Deiner Kameraden durch Deine Dir eigene heitere Art und vermeide alles, was zu Konflikten führen kann. Du weißt nicht, wer unter Deinen Kameraden in Wirklichkeit mit wem verbunden ist. Nicht nur dort, sondern auch daheim. Schatten, die Dir aus der Heimat folgen sollten und die ihren Ausgang in m e i n e r Vergangenheit haben sollten, musst Du bannen. Wenn Dein Denken sozial ist, dann kann es keinen Kameraden geben, der gegen Dich ist. Ich möchte nicht, dass Du wie der Einäugige unter den Blinden der König wirst, vielmehr unter den Schweigenden der Schweigende, unter den Redenden der Redende. Aber immer mit einem Sack voll Wissen. Das heißt, sich immer und unermüdlich weiterbilden.
Gehe nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, angezogen schlafen. Du ruinierst so Deine Gesundheit und ebnest so den Weg für die Läuse. Es ist besser, die Kleider unter sich und etwas zu Zudecken auf sich zu haben, als die Kleider an sich. Du schreibst von erheblichem Husten und brennenden Lungen. Sei vorsichtig, um nicht etwas zu erwischen, was Deiner Gesundheit grundsätzlich abträglich wäre. Sei auch da vernünftig. Wo es nicht sein muss, komme nicht in Schweiß. Ist es aber unvermeidlich, dann lieber sich ausziehen, abreiben, die Wäsche trocknen und wieder anziehen, wenn die Umstände dies erlauben. Wenn ich beim Gehen schwitze, dann öffne ich den Mantel. Werde Dein eigener Arzt und sei lieber vorsorglich als sorglos.
Fußblasen können zu Vereiterungen führen, diese zur Blutvergiftung und diese – wie Du bei mir sehen konntest – zu Krisen, bei denen es dann um Arme oder Beine wenn nicht um den ganzen Menschen geht. Pflege die Füße, wasche sie täglich. Hast Du einmal Schweißfuß, ist die Behandlung langwierig und erfordert Sorgfalt und Geduld.
Wie kommst Du mit dm Obergefreiten Stelzig aus Oberaltstadt aus? War es notwendig, mit dem Korporal über Kreuz zu kommen. Renke das irgendwie ein, damit Du nicht schikaniert wirst. Kamst Du nur deshalb in die Küche, weil Du im Funken voraus bist? Wenn man in der Küche arbeitet und vom Dunst feucht wird, dann in die Kälte geht, kann man sich sehr rasch verkühlen. Ich schrieb Dir, dass Du bei schlechtem Licht nicht schreiben sollst. Es ist daher gut, wenn Du das Tagebuch weiter in Briefform schreibst. Etwas flüchtig ist Deine Schrift geworden. Versäume nicht Deiner Schreibarbeit wegen Deinen Dienst.
Lass Dir nicht in die Karten gucken. Hältst Du es nicht für ratsamer, meine Briefe wieder am Heimatort aufzubewahren? Worin besteht Deine Sturheit? Passe Dich an, sonst wirst Du „geschliffen“. Bleib auf beiden Beinen fest stehen und mache Deinen Weg. Der Kompaniechef soll mit Dir zufrieden sein, wobei ich Dir nicht empfehlen kann, Selbstmörderkarriere zu machen. Gestern war Ossi hier, um sich zu verabschieden. Er lässt Dich nochmals herzlich grüßen und wünscht Dir alles Gute. Beim nächsten Urlaub will er mit Dir die Zeit verbringen. Margit trägt jetzt Bubikopf. Soll hübscher sein als mit Zöpfen. Großmutter soll krank sein, sagte mir auch Ossi. Mama weiß sich angeblich keinen Rat. Ich sagte Ossi, sie solle mich heute früh anrufen. Aber bis dato ( 13 Uhr 25 ) kein Anruf.
Muss leider schließen. Um 13 Uhr 30 muss ich beim Raseur sein, sonst geht zu viel Betriebszeit verloren. Ich wünsche Dir, mein lieber Junge, alles Gute, bleib gesund und sei herzlichst gegrüßt.

 

Trautenau, den 10. 1. 45

Lieber Kurt!

Recht schönen Dank für Deine lieben Zeilen vom 7. d. M., über die ich mich, wie immer, sehr freute. Dank auch für die Information. Ich hoffe, dass Dein „Ohrenleiden“ nicht ernst wird. Bei Mittelohrentzündungen wird, sofern operativ eingegriffen werden muss, der Knochen hinter dem Ohr aufgestemmt und der Eiter abgesaugt. Keine leichte Sache. Lässt man es, tritt eine Vereiterung der Hirnrinde und damit der Tod ein.
Solltest Du Gelegenheit haben, Dich fotografieren zu lassen, so würde ich es begrüßen, noch einige Bilder zu erhalten. Da ich Dein „Propagandachef“ bin, benötige ich sie. Es genügt nicht, literarische Arbeiten herumzureichen, sondern es ist auch nötig, den Mann zu zeigen. Du wirst – was ich anerkenne und zu würdigen weiß – dagegen protestieren. Aber es hilft Dir nichts. Deine Bescheidenheit zwingt Dich zum Protest. Aber in diesem Fall wirst Du „überstimmt“. Vorläufig – und Gott sei Dank – nur von Deinem Vater. Weißt Du, wenn einem nichts Gutes nachgeredet wird, muss man selbst beweisen, was man gegen das Böse tut, um das Gute zu fördern. Das bezieht sich nicht auf Dich, weil ich nicht Nachteiliges über Dich höre – sondern auf das Allgemeine.
Des Koffers wegen wird es gemacht, wie Deinerseits vorgeschlagen. Ich bedaure nur, dass Dein guter Rock leiden wird, wenn er nicht sorgfältig zusammengelegt wurde. Margit sagte schon, dass sie zu Dir fahren will.
Heute erst überlas ich den Durchschlag des gestern an Dich übersandten Briefes und stellte Flüchtigkeitsfehler fest. Ich hoffe, Du wirst darauf gekommen sein.
Ich fahre um 10 Uhr 23 nach Hackelsdorf, weshalb ich mich nicht mehr richtig konzentrieren kann. Lasse es Dir gut gehen, mein Junge und sei herzlichst gegrüßt.

 

Bienau, 12. 1. 1945

Lieber Vater!

Für Deine beiden Briefe herzlichen Dank. Ich will sie kurz beantworten. Zu Deiner Beruhigung kann ich Dir sagen, dass ich mich mit unserem Korporal wieder vertrage. Ich fragte ihn eines Tages, was er gegen mich habe. Ob ich ihm vom ersten tage an unsympathisch gewesen sei. Darauf sagte er, dass er gar nichts gegen mich habe. Ich benähme mich angeblich zu unmilitärisch. Ich wackle mit dem Kopf, rede mit den Händen usw. Darauf ich: Ich gebe mir aber doch Mühe. Das kann schon sein, sagte der Kapo, ich könne mich darauf verlassen, dass er mich noch auf Vordermann bringt. Gestern sagte er, dass aus mir noch ein zackiger Soldat werden würde. Siehst Du, so ist es. Ich reiße mich aber auch jetzt wirklich zusammen.
Gestern erfuhr ich, dass Edwin gefallen ist. Ich kann es gar nicht fassen. Ist es denn nötig, dass soviel Leid geschehen muss, dass soviel junge Menschen sterben müssen. Ich sollte zur Heldengedenkfeier in Bausnitz sprechen, komme aber nicht los von hier. Es gibt keinen Urlaub. Die letzten Tage hatten wir ununterbrochen Funkübung. Da gibt es wenig oder fast gar keinen Schlaf. Meinen Husten habe ich fast weg. Es ist ja kein Wunder, wenn man sich verkühlt. Die Schuhe werden nie trocken. Dauernd habe ich wie die anderen nasse Füße. Aber weißt Du, es ist ganz gut, dass man sich an ein anderes Leben gewöhnt. Das härtet den Körper ab.
Wie ist die Lage an den Fronten? Was gibt es politisch Neues? Wir erfahren nichts. In der Küche war ich nur einen Tag. Du brauchst also nicht zu glauben, dass man mich dort „kaltstellen“ will. Gestern habe ich die Hörprobe für Tempo 50 bestanden. Wie sieht es denn in der Heimat aus? Wenn meine Gedanken irgendwo sind, dann zu Hause. Wenn ich abends im Bett liege und die Augen schließe, dann sehe ich Bausnitz, sehe ich ins Gebirge. Alles ist so greifbar nahe, so wirklichkeitsgetreu. Dann fallen mir auch immer die ersten Strophen meiner Gedichte ein. Wenn ich dann wieder die Augen öffne, sehe ich über mir nur die rohe unbehauene Balkendecke des Bunkers. Das ist immer ein grausiges Erwachen und es dauert gewöhnlich eine Weile, ehe ich mich zurechtgefunden habe. Anbei ein Gedicht, das ich vor ein paar Tagen geschrieben habe.

Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Kurt.

 

Bienau, 14. 1. 45

Lieber Vater!

Ich danke Dir für Deinen Brief. Mache mich nur nicht zu bekannt. Meine Arbeiten sind nicht so gut, als dass viele Menschen sie lesen. Ich muss noch an ihnen schleifen.
Am liebsten möchte ich immerzu schreiben, schreiben und wieder schreiben. Ich bin so voller Gedanken, habe aber keine Zeit, sie niederzuschreiben. Letzte Nacht habe nach meiner Wache noch zwei Stunden geschrieben. Meine Kameraden nennen mich seit einigen Tagen „Doktor“, warum weiß ich nicht.
Lieber Vater, bitte schicke mir etwas Briefpapier, einen Bleistift und je einen Rot- und einen Blaustift. Ich brauche sie dringend. Morgen geht’s auf Funkübung ins Gelände. Da wird wieder keine freie Minute sein. Augenblicklich sitze ich in einer kleinen gemütlichen Gaststube auf einer gepolsterten Couch. Da fühlt man sich wieder Mensch. Gott sei Dank fahren wir in zwei Wochen wieder in die Kaserne. Dort werden wir wieder ein geregeltes Leben führen.

Ich muss noch ein paar Briefe schreiben. Deshalb will ich schließen. Es grüßt Dich Dein Sohn Kurt.

 

Liegnitz, 19. 1.45

Lieber Vater!

Ich will Dir noch kurz Nachricht geben, ehe wir von hier versetzt werden. Die ganzen ROB’s kommen nach Berlin-Stahnsdorf, zur N.E.A.3, (Nachrichten-Ersatzabteilung 3).Wer weiß, was sie dort mit uns vorhaben. Jedenfalls nichts Gutes. Es kam alles ganz plötzlich. Heute früh haben wir es erfahren, und heute Abend geht’s los. Gott sei Dank bleibe ich mit den Kameraden aus der Stube zusammen. Im Ganzen sind wir dreizehn Mann, die versetzt werden.
So bald es geht, schreibe ich Dir aus Berlin. Mach’ Dir keinen Kummer. Ich werde den Kopf schon oben behalten.

Herzlich Grüße! Dein Sohn Kurt.

Danke für das Papier und Bleistifte.

 

Trautenau, den 21. 1. 1945

Lieber Kurt!

Ich danke Dir herzlichst für Deinen interessanten Brief vom 17.d.M., dessen Inhalt ich mit Freude zur Kenntnis nahm. (Der erwähnte Brief ist nicht erhalten geblieben.)
Heute steht in allen Zeitungen, dass der Reiseverkehr wiederum stark eingeschränkt wird. Die D- und Eilzüge fallen überhaupt alle aus, auch Urlauberzüge der Wehrmacht. Schlechtes Zeichen! Hoffentlich habe ich eher die Möglichkeit, Liegnitz zusehen als die Sowjets Breslau. Die Lage ist sehr ernst. Vor einer Stunde, um 15 Uhr, hörte ich im OKW-Bericht die Namen Kempen – Loben. Kempen liegt an der Strecke Posen – Ostrowo – Kempen – Kreutzberg – Beuthen bzw. an der Strecke Breslau – Oels – Kempen – Wielun – Tschenstochau, wobei die Bahn bei Wielun einen Knick nach Süden gegen Tschenstochau macht. Kempen dürfte knapp 80 km von Breslau entfernt sein. Warte – Fahrplan zur Hand. Breslau – Oels = 33,9 km, Oels – Kempen = 46,1 km.
Die strategischen Pfeile weisen also nach Posen, nach Breslau, nach Beuthen-Gleiwitz-Ratibor-Ostrau-Troppau bzw. Glatz. Die Sowjets streben offenbar eine Nord-Süd-Transversale Stolp-Posen-Breslau-Glatz-Brünn-Wien an. Es besteht die Gefahr der Isolierung Ostpreußens. Die Zeitungen berichten, dass die sowjetische Propaganda „Auf nach Berlin“ rufe. Mag sein. Tatsache ist, dass die rund 1600 km lange Front in Bewegung geraten ist. Wir setzen uns in der Slowakei offenbar bis an die Waag ab. Wir räumen Westgalizien, wobei die Russen hart nachdrängen. Unser Manöver in Ungarn ist gefährlich, obwohl wir uns gegen die Ostmark absetzen können. Tilsit in Ostpreußen ist gefallen, Insterburg und damit Königsberg sind stark bedroht.
Die deutsche Presse publiziert beruhigende Notizen. Appelle zur Versteifung des Widerstandes sind an der Tagesordnung. Ich erinnere mich der Beschlüsse von Teheran, denen zufolge den Sowjets der Raum bis zur Oder überlassen wurde. Man spricht hier vom Volkssturmeinsatz. Jungbuch hat mich zur 1. Kompanie und zum 1. Zug gegeben. Mein Chef schlug die Rückstellung ins 2. Aufgebot (unersetzliche Arbeitskraft) vor, obwohl ich ins 4. Aufgebot gehöre. Ich habe augenärztliche Überprüfung beantragt. Es ist ein Elend, wenn Leute, die an der Spitze irgendeiner Formation stehen, nicht begreifen, was es heißt, eine Sehschwäche von 30 Dioptrie zu haben.
Ich fuhr heute mit Soldaten herein. Fazit der Unterhaltung: Schluss mit dem Krieg, bevor noch mehr Heimatgebiet der Vernichtung preisgegeben wird. Wenn ich die vorgegangenen russischen Offensiven mit der gegenwärtigen vergleiche, muss ich gestehen, dass ich eine derartige Wucht kaum erwartet habe. Sie ist ein Beweis, dass Stalin tatsächlich eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen will. Wer wird am 30. Jänner zum Tag der Machtergreifung sprechen? Es sprach an diesem Tag immer der Führer. 1944 sagte er bekanntlich, dass es in diesem Krieg nur einen Sieger geben kann, Deutschland oder Sowjetrussland. In seiner Neujahrsrede sagte er, dass wir siegen werden. Ich habe das Gefühl, dass im Stillen die Möglichkeiten eines Kompromissfriedens sondiert wird. Vielleicht bekommen wir etwas andeutungsweise am 30. Jänner zu hören. Heute erweist sich, dass der Krieg gegen Russland ein Fehler war. Man hätte wie Bismarck denken sollen: keinen Kampf mit dem Osten. Nun hat es keinen Sinn, nervös zu werden. Nervosität ist die Mutter aller Fehlschlüsse und Fehlschlüsse gebären das Chaos. Der Krieg wurde total organisiert, total geführt. Er müsste auch total in einen Ausweg münden. Nur keinen Bürgerkrieg, den Krieg Bruder gegen Bruder.
Würden wir Oberschlesien verlieren, so wäre das für unsere Wirtschaft verhängnisvoll. Aus Wirtschaftszeitungen weiß ich, dass Oberschlesien 40 Prozent unserer Kohleproduktion ausmacht und 20 Prozent unserer Zinkerzeugung.
Würden es die Sowjets besetzen, bzw. die Wirtschaft durch Artillerie- oder Luftangriffe lahm legen, so wäre zu überlegen, was wir ohne diese zweite Ruhrgebiet machen würden. Nun sind die Russen in unmittelbarer Nähe. Ich bin neugierig, was in einer Woche sein wird.

Halte mich bitte auf dem Laufenden. Mutter, Margit und Oma sind wie ich nicht wenig besorgt um Dich. Ich wünsche Dir alles Gute und grüße Dich herzlichst.

 

Berlin-Stahnsdorf 21. 1. 1945

Lieber Vater!

Nach einer Bahnfahrt von zwölf Stunden landeten wir in Berlin. Die Züge und die Bahnhöfe waren mit Flüchtlingen überfüllt. Um 0.45 Uhr fuhren wir aus Liegnitz ab. Im Zug konnte man sich nicht bewegen, von schlafen nicht zu sprechen.
Als wir in Berlin einfuhren sahen wir zu beiden Seiten zerstörte Häuserblocks. Mit zwei Kameraden ging ich durch Berlin, war am Brandenburger Tor, Unter den Linden, am Zeughaus usw. Die Reichskanzlei, das Polizeipräsidium, das Zeughaus, die Kunstakademie und viele andere bekannte Gebäude sind völlig ausgebrannt. Man ist ganz niedergedrückt wenn man das alles sieht. Seid froh, dass bei Euch noch alles heil ist. Stahnsdorf liegt weit draußen, eine Dreiviertelstunde S-Bahn, dann noch 30 Minuten zu Fuß. Die Kaserne ist neu, was man so als neu bezeichnet. Gott sei Dank bleiben wir alle beisammen. Wir machen wahrscheinlich weiter Funkausbildung.
Wenn es dem Russen gelingt, in Oberschlesien einzudringen, dann ist wohl alles entschieden. Glaubst Du, dass das die letzten Reserven der Russen sind, die sie jetzt in den Kampf werfen? Die Lage wird in Soldatenkreisen sehr diskutiert. Augenblicklich warten wir gespannt auf den Wehrmachtsbericht.
Der Abschied von den Kameraden aus der alten Stube in Liegnitz war wirklich schwer. Ich will mir nichts vormachen, es ging mir sehr nahe und ich musste die Zähne fest zusammenbeißen. Ich hatte sie alle lieb gewonnen. In den fünf Wochen waren wir gute Kameraden geworden.
In Ludwigsfelde habe ich Bekannte, die lange Zeit in Bausnitz wohnten. Die werde ich bei Gelegenheit aufsuchen. Der ganze Liegnitzer Wehrkreis soll aufgelöst werden und alles, was Beine hat, zur Infanterie kommen. Schwein gehabt!
Unsere Stube besteht nur aus ROB’s. Da wird man uns aber Zunder verpassen. Na, Du kennst ja meine Ansicht. Stur heil – Hauptsache du lebst. Auf mich wartet noch viel Arbeit. Ich muss den Krieg überleben. Ich glaube, er ist über seinen Höhepunkt hinaus. Es geht nun bergab, das steht fest. Eben hören wir den Wehrmachtsbericht. Es sieht mies aus, sehr mies. Der Russe marschiert, marschiert – –

Alle Gute! Dein Sohn Kurt

 

Trautenau, den 22. 1. 1945

Lieber Kurt!

Mutter hat am Freitag angerufen und gefragt, ob ich Post hätte. Sie war sehr besorgt, weil ohne Nachricht. Ich hoffe, dass Du ihr inzwischen einige Zeilen geschrieben hast. Du kannst Dir denken, wie uns hier ums Herz ist. Der Flüchtlingsstrom verstärkt sich, Wohnungen werden beschlagnahmt, wirre Gerüchte schwirren durchs Land, die ganz „Tapferen“ suchen einen Weg nach Westen, weil sie lieber unter englischer als sowjetischer Herrschaft sein wollen. Alles wartet auf Nachrichten, sei es den Rundfunk oder die Presse. Beide aber sagen so gut wie nichts. Das ist nicht gut. Eine realistische Berichterstattung ist immer die beste. Keine Sensationen aber keine Schönfärberei. Auffallend ist, dass die werktätigen Massen fast absolute Ruhe bewahren. Von dieser Schicht will niemand flüchten. Man hört, dass wir Sudetendeutschen nach Thüringen evakuiert werden, falls die Sowjets noch näher kommen. Ich halte es für eine Dummheit. Die Frauen machen Panik, weil sie sich schon geschändet, gevierteilt und aufgehängt sehen. Sie machen aus einem Narren Tausend. Man erzählt Geschichten, die Russen hätten in der Slowakei die Frauen genötigt, die Hände in kochendes Wasser zu stecken, um ihnen dann die Haut abzuziehen. Greuelgeschichten! Wenn die Propaganda von nichts Besserem zu leben weiß, dann ist sie am Ende ihres Lateins. Ich bin dessen gewiss, dass die Sowjets nicht weniger Heilige sind als es unsere SS in den Ostgebieten war. Man hört so allerhand Sachen, die der Ehre unserer Waffen abträglich waren. Ich will die Russen durchaus nicht entschuldigen, nur bin ich, wie Du weißt, für den Spruch: „Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede. Am bestens ist’s, man hört sie alle beede.“
Der OKW-Bericht nannte heute um 17 Uhr – man berichtete mir darüber – den Raum südöstlich Oppeln. Die Dinge überstürzen sich. Gestern noch war von Kempen-Loben die Rede, heute schon Oppeln, d.h., dass die Sowjets bereits auf deutschem Boden kämpfen. Die hiesige Garnison hat Trautenau verlassen. Gestern jagte ein Rundtelegramm alle Wehrmachtsurlauber in die hiesige Kaserne. Alle Waffengattungen waren beieinander und mussten, wie sie standen und gingen, nach Oberschlesien. Der Volkssturm wird mobilisiert. Jener aus Hirschberg ist schon in Oberschlesien. Es geht das 1. und das 2. Aufgebot. Bin neugierig, was mit mir geschieht.
Seit drei Tagen habe ich keine „Zeit“. Der „Neue Tag“ von gestern beschäftigt sich mit der Lage im Osten, den Absichten des Gegners und den Maßnahmen der deutschen Führung. Unsere Abwehr soll hinter der Linie Krakau-Tschenstochau-Litzmannstadt-Kutno-Plonsk-Mlawa-Krasnosielc-Scharfenwiese aufgebaut werden. „Hinter der Linie.“ Das ist ein dehnbarer Begriff. Das kann auch Ostrau-Breslau-Frankfurt/Oder-Stolp heißen. Man muss abwarten. Leider! Der „Tag“ sagt, dass zwischen Krakau und Mlawa 150 sowjetische Divisionen anrennen, denen mehrer Panzerarmeen angegliedert sind.
Reichspressechef Dr. Dietrich sag („Neues Tag“): „In diesem Augenblick, in dem die Bolschewisten im Einbruchsraum ihre Kräfte bereits zur vollen Entfaltung gebracht haben, während unsere Gegenmaßnahmen noch im Stadium der Entwicklung sind, ist es gewiss nicht leicht, eine Formel zu finden, die die Situation richtig kennzeichnet.“ Er meint, wie im Westen die Bäume der Angloamerikaner nicht in den Himmel gewachsen sind, so wird es auch den Russen ergehen. Das deutsche Volk werde verstehen zu kämpfen, um die Heimat zu verteidigen. Dr. Dietrich versicherte den versammelten Journalisten, dass wir die Feinde wieder zurückschlagen werden.
Dr. Krejči, Ministerpräsident des Protektorates, ist zurückgetreten, behält aber das Justizministerium. Dr. Bienert, bisher Innenminister im Protektorat, wurde Ministerpräsident unter Beibehaltung des Innenministeriums. Im Protektorat ist Alarmbereitschaft.
Die Karpatho-Ukraine ist abgetrennt und der UdSSR angegliedert worden. Der „Tag“ sagt, dass sich Benesch diesem fait accompli gefügt habe.
Hast Du die Karten erhalten, die Bleistifte, das Briefpapier und Mutters wie Familie Pohls Pakete? Wie geht es Dir sonst? Ich hoffe, dass wir nicht in zu großer Sorge um Dich zu sein brauchen und bitte Dich, uns stets ein Lebenszeichen zu senden. Wenn es nur zwei Worte sind: ich lebe! Das sagt uns dann alles. Wir hier rechnen mit einer Versteifung des deutschen Widerstandes in Oberschlesien, zumindest an der Oder. Nun wissen wir aber auch, was es heißt und wie viel es für die deutsche Wirtschaft geschlagen hat, wenn Oberschlesien verloren geht.

Es geht auf 19 Uhr 30. Ich muss also zum Zug und schließe mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehen.

 

Trautenau, den 23. 1. 45

Lieber Kurt!

Herzlichen Dank für Deine Zeilen vom 19. d. M. Ich habe Mutter verständigt und hoffe, dass Du bald wieder schreibst. Die Zahl 13 soll Dich nicht bekümmern. Wir leben in einer Zeit, da man leicht abergläubisch werden könnte. Der Aberglaube ist der Glaube an übernatürliche Vorgänge. Er steht im Widerspruch zu geltenden wissenschaftlichen und religiösen Auffassungen. Ein arteigener Aberglaube fußt auf überlieferten Naturbeobachtungen und hat nach nationalsozialistischer Auffassung volkskundlichen Wert. Wäret ihr 15 ROB’s, dann stünde die Sache anders, nicht? Mit wem bist Du beisammen und wohin schaukelt Euch der Kahn des „Schicksals“?
Ich hörte, Oels bei Breslau (33 km Entfernung) sei von Russen besetzt. Eben kam ein Betriebsführer der dortigen Junkerswerke. Es müssen sich schreckliche Flüchtlingstragödien abspielen. Kinder und Frauen erfrieren über Nacht auf der Straße, weil sie kein Obdach finden. Die Evakuierungsmaßnahmen müssen des-organisatorischen Charakter tragen. Breslau wurde zur Festung erklärt, d.h., dass die Sowjets sie in Schutt und Asche legen werden. Schade um diese schöne Stadt. Es dürfen keine Briefe mehr geschrieben werden, sondern nur noch Karten. Pakete dürfen nicht mehr geschickt werden. Briefhöchstgewicht für Rüstungsbriefe 100 Gramm. Die Hiobsnachrichten nehmen kein Ende. Die Sowjets in Namslau bei Breslau, östlich Oppeln usw. usf.

Alles Glück sei mit Dir! Es grüßt Dich herzlichst…

 

Trautenau, den 24. 1. 45

Lieber Kurt!

Teile mir bitte postwendend mit, ob Du Deinen Koffer in Liegnitz gelassen oder nach Berlin mitgenommen hast. Falls er in Liegnitz ist, will ich ihn abholen lassen, und zwar durch Vermittlung von Frau Schreier aus Jungbuch.
Wie geht es Dir sonst? Unter welches Sternbild bist Du geraten? Weiterausbildung oder Einsatz? Wir sind um Dich sehr besorgt. Die Nachrichten, die uns aus der schlesischen Nachbarschaft erreichen, sind nicht gut. Die Sowjets scheinen das ganze Oberschlesien abzuschnüren. Staatsminister Karl Hermann Frank ist derzeit in Ostrau, um die Verteidigungsanlagen zu besichtigen. Die Stimmung ist wie beschrieben: ein kleiner Teil nervöser, der Großteil ruhiger Leute. Die Fabriken sind sehr knapp an Kohle. Stilllegungen im Aupatal sind für nächste Woche geplant.
Generalarbeitsführer Leitner aus Prag ist im Dienst tödlich verunglückt. Radio Moskau meldet dem „Neuen Tag“ vom 24.d.M. zufolge, dass sich der deutsche Widerstand an der Ostfront versteife. Laut Radio Moskau seien die Entscheidungsschlachten im Osten noch nicht geschlagen. Die Schweizer Presse („Basler Nachrichten“ und „Journal de Genêve“)warnt vor einer Überschätzung des russischen Raumgewinns. Sie meint, dass die von den Sowjets gemeldeten Gefangenenzahlen niedrig sind, woraus zu schließen sei, dass es nicht gelungen ist, die deutschen Truppen einzukesseln.
Gestern waren für Oberaltstadt 1000 Flüchtlinge avisiert. Trautenau hat sich für die Aufnahme von 10.000 Kindern aus Oberschlesien bereitzuhalten. Wir hören hier von grauenhaftem Flüchtlingselend. Hunderte Kinder erfrieren des Nachts auf den Straßen, Dutzende werden beim Einwaggonieren zertrampelt, weil verbrecherische Egoisten auf die Rettung des eigenen Lebens bedacht sind. Alle Partei- und Staatsbeamten sagen uns, dass bereits ein Stopp in Oberschlesien erfolgt ist. Flüchtlinge sagen das Gegenteil. Daraus ergibt sich dann die „gemischte“ Heimatstimmung.
Unser Betrieb wird offenbar alles, was ein Gewehr tragen kann, abgeben, auch der kleine bucklige Hauser s o l l (das heißt m u s s) gehen, wie ich gestern aus einer Chefäußerung hörte. Ich werde diesen „Kräftebedarf“ an „wehrfähigen“ Männern nie verstehen. Es kommt mir vor, dass man uns den Sowjetpanzern zum Fraß vorwerfen will, als ob wir das richtige Abwehrmittel wären. Wir brauchen keine menschlichen Wracks, sondern Panzer, Panzer, Flugzeuge und schwere Artillerie.

Ich hoffe, von Dir bald ein Lebenszeichen zu erhalten, wünsche Dir recht viel Soldatenglück und grüße Dich auf das herzlichste.

 

Berlin-Stahnsdorf 26. 1. 45

(Handschriftlicher Vermerk des Vaters unter dem Datum: Eingelangt 15. 2.45)

Lieber Vater!

Erst heute komme ich wieder dazu, Dir zu schreiben. Man gestattet uns hier praktisch keine freie Minute. Es ist schwer, dies alles zu ertragen. Das Essen ist auch nicht so wie es sein sollte.
Mit Bangen verfolge ich den Wehrmachtsbericht. Eine Stadt nach der anderen (fällt). Viele Kameraden sind schon ohne Heimat. Hoffentlich neigt sich jetzt der Krieg seinem Ende zu. Uns steht die Sch – bis zur Kragenbinde.
Meiner Meinung nach ist der Krieg schon entschieden. Aber die Welt soll uns ja bewundern. Wir sollen ihr zeigen, wie ein Volk zu kämpfen und zu sterben versteht. (Goebbels). Das bedeutet sinnlos Mehrung der unendlich vielen Opfer. Wozu? Wir wollen leben und arbeiten. Zerstörtes wieder aufbauen.
Wie ist denn in diesen Tagen die Stimmung zu Hause? Mich interessiert das sehr. Können wir den Russen aufhalten? Wo? Er überrennt uns mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Breslau ist Frontstadt. Wer hätte das vor einer Woche noch vermutet? Der Russe hat gerüstet. Ich bewundere im Stillen die russischen Generäle. Sie haben einen kühnen Plan entworfen und auch ausgeführt.
Lieber Vater, durch Zufall kam mir meine Beurteilung in die Hände. Ich habe sie abgeschrieben und teile sie Dir mit. „Rege, gute Auffassungsgabe, hervortretend, überdurchschnittliche Allgemeinbildung, normal entwickelt, gute Erscheinung, kameradschaftlich, etwas vorlaut, ehrlich, Leistung und Charakter überdurchschnittlich, strebsam, Führereigenschaften, entwicklungsfähig.“
So, nun weißt Du einigermaßen Bescheid. Ich will schließen, denn ich muss noch Mama schreiben. Es grüßt Dich herzlich

Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, 28. 1. 45

Lieber Kurt!

Herzlichen Dank für Deine lieben Zeilen vom 21., die gestern hier einlangten. Beantwortung heute umständehalber unmöglich, folgt morgen.
Hier viele Trecks und Flüchtlingszüge. In Bausnitz-Adamstal von einer Waldlehne zur anderen Panzersperren errichtet. Quatsch! Macht das Volk nur nervös und zwingt es zu glauben, als wären die Sowjets schon in Nachod. Kommt Hochwasser und halten die in der Aupa verklemmten Baumstämme, so gibt es in Bausnitz-Adamstal Hochwasser bei Tauwetter, bricht das Wasser die Sperre, dann reißen die Stämme in Eipel alle Wehre durch. Die Panzer kommen bestimmt nicht über Adamstal Richtung Trautenau, sondern, wenn schon, über Liebau in Richtung Trautenau-Alt-Paka-Prag. Das Gebirge interessiert sie nicht.
Ich glaube nicht, dass diese Massen die letzten Reserven der Sowjets sind. Ich glaube, es ist die Entscheidungsschlacht schlechthin. Oberschlesien geht allem Anschein nach verloren. Die Ruhr bedroht, die Saar bedroht, bleibt als Kriegspotential Mitteldeutschland. Denn nur diese vier Industriezentren haben wir.
Die Entscheidung muss bald fallen. Soll denn unsere Jugend völlig verbluten? Soll die Zukunft des deutschen Volkes jetzt schon begraben werden? Gibt es keine Vernunft, die sich besinnt, was in diesem Augenblick zu tun ist? Kann der „Volkssturm“ halten, was die Wehrmacht nicht erhalten kann? Wird die Zusammenballung von Menschen auf engem Raum nicht zu inneren Krisen führen? Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?
Halte Dich und lasse Dein Ziel nicht aus den Augen. Bleib gesund und sei herzlichst gegrüßt.

(Dieser Brief hat dem Sohn später das Leben gerettet. Siehe „Der Brief des Vaters“)

 

Berlin-Stahnsdorf, 29. 1. 1945

Mein lieber Vater!

Heute erst habe ich Zeit, Deine drei Briefe, die man mir aus Liegnitz nachgeschickt hat, zu beantworten. Ich danke Dir von Herzen für Deine Zeilen. Ich muss immer wieder staunen, wie Du alles voraussiehst. Und alles trifft zu. Ich bewundere die Feldherrnkunst unserer Gegner. Wie weit liegen ihre Ziele? Wahrscheinlich sehr weit.
Ich kann Deine und Mutters Sorge nur zu gut verstehen. Zu Eurer Beruhigung: ich lebe und bin gesund.
Mit gewisser verständlicher Neugier verfolge ich die Berichte aus der Heimat. Ich bin der Meinung, dass niemand türmen soll. Ich halte das für Unsinn. Verhaltet Euch ruhig und denkt Euch Euer Teil. Lasst Euch nicht provozieren.
Hoffentlich hast Du Glück mit der Volkssturmsache. Baumeister Foschi wird Dich schon heraushauen. Das glaube ich. Gestern, Sonntag, war ich in Ludwigsfelde bei der Familie Seidel. Sie haben sich sehr gefreut. Das Essen war prima, der Kuchen auch. Wir haben uns über Bausnitz unterhalten. Es war wirklich sehr nett. Wir schieben hier strammen Dienst. Freizeit ist Mangelware. Wenn ich Dich jetzt bitte, mir etwas Brotmarken zu schicken, nimm mir das nicht krumm. Brot ist knapp.

Ich grüße Dich herzlich. Dein Sohn Kurt.

 

Berlin, 31. 1. 45

Lieber Vater!

„Lustig ist das Zigeunerleben“. Es geht schon wieder los. Wir Liegnitzer ROB’s werden schon wieder versetzt. Nach Zerbst in Anhalt. Anscheinend kommen wir auf einen ROB-Lehrgang für Infanterie.
Gestern wurde ein Befehl unseres Generals vorgelesen, demzufolge die Nachrichtentruppe zu zwei Dritteln infanteristische Ausbildung machen muss. Das übrige Drittel bleibt für Nachrichtenausbildung.
Es ist gut, dass wir von hier wegkommen. Das Pflaster wird langsam zu hart für uns. Einen Tag werden wir uns noch in Berlin herumtreiben.
Schreibe nur an meine jetzige Adresse nach Berlin. Die Post wird nachgeschickt. Aus Zerbst schreibe ich dann sofort.

Herzliche Grüße von Deinem Sohn Kurt.

 

Zerbst, den 1. 2. 1945

Lieber Vater!

Gestern Abend langten wir um 21 Uhr in Zerbst an. Die Bahnfahrt von Berlin bis hierher dauerte fast fünf Stunden. Die Züge waren mäßig besetzt. Zerbst liegt bei Dessau, das schwer heimgesucht ist. Hier selbst ist noch nichts passiert. Die Kaserne liegt nicht außerhalb der Stadt. Das Essen hier ist prima. Der Speiseraum ist freundlich eingerichtet. Im Ganzen ist es viel besser als in Berlin. Heute war ich wieder zum ersten Male zu Mittag satt.
Ausgang gibt es jeden Abend. Wir Liegnitzer sind noch alle beisammen und liegen wieder auf einer Stube. Wir machen hier drei Monate ROB-Lehrgang. Aus ganz Deutschland kommen hier die Reserve-Offiziers-Bewerber zusammen. Wenn es klappt, bekommen wir nach den drei Monaten Abstellurlaub. Das wäre dann im Mai.

Zerbst ist ungefähr so groß wie Trautenau. Es taut hier ganz gewaltig, grad als ob schon Frühling werden wollte.
Wie sieht’s denn im Osten aus? Wir erfahren nichts mehr. Unser Radio ist fort. Schon seit fünf Tagen haben wir keine Nachrichten von draußen gehört.

Herzliche Grüße von Deinem Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 1. 2. 1945

Lieber Kurt!

Hurra! Hurra! Dein Brief ist da. Ich danke Dir erfreut und begeistert. Du schreibst zwar am 28. 1., dass Du nicht schreiben kannst Deiner Müdigkeit wegen. Geht in Ordnung. Wenn nur eine Zeile einlangt, damit man um Dein Schicksal weiß. Schließlich willst Du ja nicht nur mir schreiben. Gelt? Habe Verständnis. Selbstverständlich. Sehe Dich schmunzeln. Schmunzle! Ist Honig für die Seele.
Ein Weilchen nach Einlangen Deines Tagebuchs rief gerade Mama an. Gehe am Sonntag nach Bausnitz, um diverse Details zu besprechen. Mama will ihre Schönberger Cousine mit Kindern nach hier nehmen. Habe vorläufig abgeraten. Mutter war erfreut zu hören, dass ich Post erhielt. Ihr schreibst Du angeblich weniger. Habe sie getröstet mit dem Hinweis, dass auch ich wenig erhalte und was, das sei das Tagebuch.
Prinzipielle Frage: hast Du Aussicht, die ROB-Ausbildung in der Tat zu machen oder besteht die Absicht, Euch irgendwo als Infanterie einzusetzen Höre aus Görlitz, dass im Dezember einberufene ROB’s die sechsmonatige Ausbildung machen. Drei Monate im Gelände, der Rest Theorie.
Freue mich, dass Du in der 1. Hörklasse bist. Freue mich ferner zu hören, dass Du zu den Leistungsbesten gehörst. Nur so weiter. Mit Behagen las ich von Deiner Fahrt nach Ludwigsfelde. Ich weiß, wie das ist, irgendwo in der Welt liebe nette Menschen zu haben. Mich interessiert, wo die Familie wohnt. Kann sein, ich muss Dich mal dort suchen. Also schreibe mir die Adresse.
Mein lieber Junge, ich höre von der Einsatzlust Deiner „Schlesier“. Gestern war ich in Hackelsdorf. Im Zug fuhren Soldaten von Troppau nach Görlitz über Trautenau-Paka-Reichenberg-Seidenberg. Die Strecke Liegnitz – Görlitz ist gesperrt, Liegnitz von Frauen und Kindern geräumt. Die Sowjets drücken im Warthe-Oder-Bogen gegen Landsberg, von Südosten gegen Stettin, in Oberschlesien sind Kämpfe zwischen Ratibor und Ples, also nördlich des Ostrauer Beckens. Im Kurland sind schwere Kämpfe, desgleichen in Ostpreußen. Der erzählt von dem einmaligen russischen Aufgebot und der Materialüberlegenheit sowie von unseren Gegenmaßnahmen. Es wird an die Geduld appelliert. Die Führerrede wird als Appell an die Gebrechlichen bezeichnet. Sie hat enttäuscht und verbittert. Insbesondere in Kreisen jener, die beispiellos vom Anbeginn des Krieges ihre Pflicht als Soldaten oder Werktätige erfüllt haben.
Heute früh sahen wir Volkssturmsoldaten in Ausrüstung zum Bahnhof marschieren. Sie sangen vom Begrabenwerden beim Morgenrot . . . Ich war bedrückt. Es war kein Lied vom Glauben und Hoffen, vom Lieben und vom Siegen, sondern vom Begraben im Morgenrot. Weißt Du, was ein Schwanengesang ist? Nach sagenhaftem Sterbegesang des Schwans das letzte Werk eines Dichters, in dem er bereits die Schatten des Todes auf seiner Arbeit ruhen sieht. Begraben mich im Morgenrot . . . So wenig Glauben hat der Deutsche an den Bestand des Deutschen. Vergessen sind Goethe und Schiller, Mozart und Wagner, Kant und Hegel, Fichte und Bismarck sowie alle, die nach ihnen kamen. Vergessen unsere deutsche Literatur, die bildende Kunst, das Echo unserer Bühnen mit ihren Dramen, ihren Komödien, Opern und Operetten. Siehst Du, so s t i r b t ein Volk. Du willst etwas von Stimmungen wissen. Ich schweige – und das möge Dir sagen, was ich zu sagen unterlasse. Herrgott, Deutschland wird immer Deutschland sein. Aber es muss erst einmal dieses Völkermorden ein Ende nehmen so oder so. D a s müssen wir hinter uns bekommen. Dann geht es wieder aufwärts. Was wir durchleben entspricht dem Gefühl, das eine gebärende Frau in Fesseln hält: es kommt eine neue Welt ans Licht des Universums. Das fühlen alle Nationen Europas, mehr noch, das fühlt die Menschheit schlechthin.
Um was es jetzt geht ist: zu den Überlebenden zu gehören. Sinnlos, mit dem zum Untergang Verurteilten unterzugehen. Es ist so schwer – immer nur „Pst!“ „Pst!“ bis man verblödet. Wo ist die deutsche Studentenschaft – wie 1848? Mir scheint, unseren Tagen fehlt eine Geburtshelferin. Die Sowjets wollen den Krieg so schnell wie möglich beenden. Wir auch! Die Tage rasen dahin. Halte Dich! Und lasse mich nicht ohne Nachricht. Ich wünsche Dir alles Gute, viel Glück und grüße Dich aufs herzlichste.

 

Zerbst, den 3. 2. 1945

Lieber Vater!

Wir sind hier auf ein hartes Pflaster geraten. Der Chef sagte gestern, dass wir hier eine lange Ausbildung als Funker erhalten. Dass diese Ausbildung hart sein wird, ließ er auch durchblicken. Er verglich den Lehrgang mit einer Schmiede, in der wir das Eisen seien. Es werden wohl heiße Wochen werden, darüber sind wir uns im Klaren.
Hier ist alles viel besser organisiert. Das Essen ist prima. Die Stube ist gut geheizt, so dass wir nicht mehr so frieren. Nur eines ist nicht nach Wunsch: jeden Tag ist Alarm. Immer wenn sie gegen Berlin oder Dessau fliegen, heulen bei uns die Sirenen. Zerbst selbst wurde noch nicht angegriffen.
Komisch ist, dass es hier keinen Schnee gibt. Wie sieht’s denn daheim aus? Dort gibt es doch sicher Schnee. Berge gibt es hier auch keine.
Lieber Vater, bitte schicke mir doch ein Bild von Dir. Ich habe nämlich keins.
Der Iwan marschiert noch immer. Wohin, wohin?

Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Kurt

 

Trautenau, den 4. 2. 1945

Lieber Kurt!

Ich danke herzlichst für Deinen Brief vom 29. 1., der vorgestern (Freitag) hier einlangte. Ich war an diesem Tag, wie gestern, krank (bin es auch weiter) und raffte mich heute auf, erstens um Dir zu schreiben, und zweitens um Margit zu besuchen, da ich nächsten Sonntag zum „Volkssturm“-Dienst muss.
Deiner Bitte um Marken komme ich gerne nach. Es liegen diesem Brief bei:

4000 Gramm Brot (Großabschnitt à 500 Gramm)
1400 Gramm Brot (Kleinabschnitte à 50 Gramm)
650 Gramm Weißbrot (Kleinabschnitte 11mal 50 g/10mal 10 g)
950 Gramm Fleisch (18mal 50 g, 1mal 50 g Reisemarke)
125 Gramm Margarine (25 mal 5 g)
20 Gramm Butter (2mal 10 g Urlaubermarken)

Ich hoffe, Dir so etwas Zuschussessen ermöglicht zu haben. Wenn Du bei Familie Seidel bist, versäume nicht, zu geben, was Du schuldig zu sein glaubst.
Zur Ernährungsfrage lass Dir raten: Alles, was Du zu Dir nimmst, kaue in das Wortes tiefster Bedeutung. Schlucke keine Stückchen unzerkaut, sei es welche Nahrung immer. Esse nie frisches Brot, sondern lasse es, wenn Du es frisch kaufst, mindestens zwei Tage abliegen oder kaufe abgelegenes Brot. Das Gleiche gilt für Semmeln. Ich esse grundsätzlich kein frisches Gebäck. Wenn Du jeden Bissen mit Andacht verzehrst, so nehmen die wichtigsten Organe des Körpers wie Milz (Blutbilder), Leber (Reservespeisekammer des Menschen) und andere die Nahrung in wertvollerer Weise auf. Das Essen ist ein Kult, ähnlich auszuüben wie die Andacht eines Tiefreligiösen.
Ich habe oft russischen Kriegsgefangenen zugesehen (die bei uns tätig waren), wenn sie aßen. Wenn sie das Essen von unserem Koch erhielten, nahmen sie die Mütze ab, bekreuzigten sich, sprachen ein kurzes Gebet, dann steckten sie den Löffel in den an sich bescheidenen Brei und aßen wie die Philosophen. Ihre Kiefer mahlten bedächtig, aber sinnvoll, obwohl man ihnen ansah, dass sie gern hastig (insbesondere im Winter heiße Speisen) essen möchten. Sie löffelten alles aus, ließen nichts in der Ess-Schale und als sie fertig waren, setzten sie die Mütze wieder auf. Sie aßen einen Liter Eintopf in einer Viertelstunde. Andere wären in drei Minuten fertig gewesen.
Erst wer wirklich Not kennen gelernt hat, hat gelernt, den Wert der Nahrung zu studieren und zu schätzen. Ich habe zum Beispiel am Freitag überhaupt nichts gegessen und war den ganzen Tag im Büro. Gestern Mittag einen Teller Haferschleim, abends wenig Milch und zwei kleine Semmeln. Heute früh etwas Milchkaffee und zwei kleine Semmeln. Ich hatte Freitagabend Blut erbrochen. Mein Magen quält mich seit Wochen, hatte starken Ausschlag. Der Arzt meint, Ursache sei schlechtes Gewürz in Wurst oder Soßen etc. (Chemie). Bei dem Essen, das ich zu mir nehme, müsste ich eigentlich liegen. Morgen muss ich wieder zum Arzt. Ich brauche eine Diätkur. Vielleicht Karlsbad. Jedoch die heutigen Tage wägen nicht ein Menschenleben und seinen Wert. Man muss sich nur selbst erkennen, sich selbst vertrauen und den festen Willen haben, sich nicht gehen zu lassen, um nicht unter die Räder „unserer Zeit“ zu geraten. Ich möchte den Krieg trotz allem gern überleben. Möchte also zu den Siegern gehören wollen. Deutschland braucht uns.
Ich empfehle Dir also, meinen väterlichen Rat nicht in den Wind zu schlagen. Wie oft las ich in unseren Zeitungen von der für europäische Begriffe unvorstellbaren Genügsamkeit und Leidensfähigkeit des sowjetischen Soldaten, der mit einem Säckchen Hirse tagelang kämpft und die größten Schmerzen mit einer staunenswerten Geduld erträgt. Es sind eben Stoiker. Begründer der stoischen Philosophie war der Grieche Zeno (336 – 264 vor Christi). Er schuf die Lehre von der vernunftgemäßen Lebensweise und Selbstbeherrschung. Er erklärte diese Tugenden zum obersten Lebensziel. Ich glaube, dass es diese Philosophie ist, ergänzt durch Plechanow (geistiger Vorgänger Lenins in Russland, Lenin selbst stützte sich jedoch auf Karl Marx) und Lenin, praktisch gelehrt von Stalin, die die Rote Armee befähigt, unsere an sich so heldenmütig kämpfende, erstklassig organisierte Armee in Situationen zu manövrieren wie seit den Tagen von Stalingrad.
Es ist 11 Uhr. Der Zug geht um 11 Uhr 23. Ich muss also leider schließen. Anbei zwei Zeitungsblätter. Die Fahnenjunker von Steinau ließen sich von den Maschinengewehr-Salven der russischen Panzer „zersieben“, wie der „Neue Tag“ schreibt. Aber die Panzer rollten doch weiter und stehen in Lüben, nördlich Liegnitz mit Zielrichtung Sagan – Görlitz. Lies den „Tag“ vom 3. 2. „Versteifung des Widerstandes an den deutschen Flanken“.

Ich wünsche Dir alles Gute, viel, viel Kriegsglück und grüße Dich herzlichst.

 

Trautenau, den 8. 2. 1945

Lieber Kurt!

Als ich gestern um 19 Uhr 45 von Hackelsdorf im Büro ankam, fand ich Deine beiden Briefe vor. Ich danke Dir herzlichst. Dem Brief vom 3. 2. lag das Gedicht bei. Beide Schreiben tragen den Poststempel vom 5. 2. und waren gestern hier. Die Post scheint besser von Zerbst zu klappen als von Berlin.
Zur Sache: Mutter rief heute an, dass Dein Koffer ordnungsgemäß einlangte. Wir alle empfanden eine große Genugtuung darüber. Alle Sachen unbeschädigt! Gott sei Dank!
Es freut mich zu hören, dass Du nicht frierst und nicht hungerst. Ihr ROB’s seid also das Eisen und der Oberst – so nehme ich an – der Hammer. Wenn man seine Pflicht erfüllt, kann nichts schief gehen. Scheußlich, die täglichen Alarme. Nicht nervös werden. Sich immer fragen: wie rette ich mein teures Haupt. Ich hörte etwas von Magdeburg. Soll schlimm gewesen sein. Was hast Du dabei erlebt?
Hier schmilzt der Schnee wie Ende März. Ich musste gestern zu Fuß von hier nach Trübenwasser. Finster und die Füße immer im Matsch gehabt. Kam heim wie eine Ente. Es scheint bald Frühling werden zu wollen . . . Wenns nicht umdreht und uns noch etwas beschert, wonach wir uns mangels Kohlezuteilung nicht sehnen.
Du schreibst, dass die Schwachen und Kranken „vergehen“ müssen. Das ist inhuman und widerspricht meiner Moral. In diesem Punkt, mein lieber Junge, gehen unsere Ansichten auseinander. Das Schwache muss des Schutzes des Starken würdig sein und das Kranke muss, wenn es heilbar ist, geheilt werden. Das erfordert der Grundsatz der Menschlichkeit, also der Humanität. Ich bin durchaus nicht der Humanitätsduselei verfallen und meine, was ich sage, im weiteren Sinne des Wortes. In der Welt heilt die Natur immer durch ihre eigene Kraft und ihre eigenen Gesetze. Der Arzt, es kann auch (Deinem Sinne nach) der Staatsmann sein, kann immer nur die Krankheit erkennen und kurieren. Ich weiß, was Du meinst. Im Prinzip hast Du Recht, nur etwas flüchtig ausgedrückt hast Du Dich. Du musst eben noch lernen, die Gewalt der Sprache zu meistern.
Im hiesigen Kreisernährungsamt wurde eingebrochen. Tausende Schwerarbeiterkarten gestohlen. Darob große Untersuchungen bei allen Firmen. Alle Geschäftsleute müssen der Polizei helfen, die Täter zu ermitteln. Die Betriebe mussten alle Karten zurückgeben und stempeln lassen. Scharfe Kontrollen sind angesagt. Etwas Leute wurden schon verhaftet.
Zum Brand in Bausnitz (Ringel) kam einer in Neuhof (Gasthaus Kamitz). Der Flüchtlingsstrom hält an. Wir müssen auf je 15o Kilogramm erhaltene Karten 25 Kilo wieder zurückgeben für die Flüchtlinge. Für Mai ist der Zucker gestrichen. Zeichen der Zeit. –

In der ganzen Umgebung wird an Befestigungen gearbeitet. Beherrsche Dich: nichts soll Dich hierher treiben. Erstmal lerne, was Du lernen musst. Erst mal die Gesellenprüfung ablegen. Nur nicht in den Lehrjahren „umsatteln“ wollen. Bleibe, wo man Dich derzeit hingestellt hat. Deine Heimat ist nicht bedroht. Wir können gar nicht daran denken zu flüchten. Müssen bleiben und werden bleiben. Hätten wir einmal die Heimat aufgegeben, dann erst hätten wir sie wirklich verloren. Das ist mein Standpunkt. Die Heimat verteidige ich nicht, indem ich sie verlasse. Anders ist es mit Frauen und Kindern. Ich wundere mich über die nicht kleine Anzahl von Männern, die mitkam. Es gibt Männer, die den Frauen und Kindern die Plätze im Zug streitig machen. Solche „Helden“ gibt es leider auch.
Für heute, mein lieber Junge, muss ich leider schließen. Es gäbe vieles zu berichten. Ich kann aber nicht, weil ich nur in geeigneten Augenblicken schreiben kann. Ich wünsche Dir alles, alles Gute und grüße Dich herzlichst.

 

Potsdam, 12. 2. 45

Lieber Vater!

Du brauchst Dich über nichts mehr zu wundern. Wir wurden schon wieder versetzt. Hierher nach Potsdam. Wahrscheinlich kommen wir aber wieder nach Stahnsdorf. Von Zerbst hat man uns weggeschickt, weil wir unseren ersten Ausbildungsabschnitt noch nicht beendet haben.
Wir führen ein richtiges Zigeunerleben. Ohne ein festes Ziel reisen wir umher. In Berlin baut man Barrikaden. Das Brandenburger Tor wird vermauert. Im Süden von Berlin werden Stellungen gebaut. Auch in Potsdam sind die Brücken verbaut. Wird der Russe Berlin nehmen? Der Berliner verfolgt mit Resignation die Lage. Er türmt nicht. Wo sollte er denn auch hin? Ich glaube, wir sollen ausgehungert werden. So viel Menschen auf engem Raum!
Was tut sich daheim? Bleibt alle beisammen und türmt nicht. Bitte tröste manchmal Mutter. Post habe ich schon fast drei Wochen keine bekommen. Im übrigen bin ich gesund.

Dein Sohn Kurt.

 

Stahnsdorf, 14. 2. 1945

Lieber Vater!

Ich weiß nicht, ob Dich diese Zeilen noch erreichen werden. Bei der augenblicklichen Lage ist das gar nicht so ganz sicher. Die Post geht doch über Görlitz. Das liegt aber schon ziemlich nahe dran.
Wir sind hier in einer Alarmkompanie. Wir müssen jede Minute darauf gefasst sein, dass wir abgestellt werden. Sei unbesorgt, wenn Du eine zeitlang keine Post von mir bekommst. Und hilf auch Mama manchmal, wenn sie den Kopf verlieren will.
Es ist fünf Minuten vor zwölf. –
Bleib gesund und lass Dich nicht unterkriegen. Heute gilt es ja nur, sein Leben aus diesem Schlamassel herauszuretten.

Herzliche Grüße von Deinem Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 16. 2. 1945

Lieber Kurt!

Besondere Freude erfüllte mich, als ich gestern Deinen Bief vom 26. 1. vorfand, den Du am 27. 1. in Berlin-Stahnsdorf zur Post gabst. Ich danke Dir herzlichst für diese Zeilen. Dass der Weg Berlin-Trautenau nun so lange braucht, ist symptomatisch für unsere Tage.
Mit Ungeduld, ja mit Ungeduld und Sorge warte ich auf einige Zeilen aus Zerbst und weiß nicht, was ich mir des langen Ausbleibens Deiner Post denken soll. Ich vermute, kombiniere, analysiere die möglichen Ursachen und komme zu keinem klaren Ergebnis Schreibe mir bitte, wie oft und ob Du überhaupt in der letzten Zeit geschrieben hast.
Nicht nur Du verfolgst den OKW-Bericht mit bangem Interesse. Deine Kameraden werden ihre Heimat wieder finden. So oder so. Ich bin davon felsenfest überzeugt, dass alle, die aus dem Osten kamen, wieder nach dem Osten gehen werden. Die kommenden wirtschaftlichen Entwicklungen werden den Menschen zwingen, sein Brot dort zu suchen, wo er es nicht nur finden, sondern auch behalten kann. Deutschland ist überbevölkert. Es muss daher eine bevölkerungspolitische Lösung gefunden werden, wenn der Friede nach diesem Kriege gesichert bleiben soll. Über dieses Kardinalproblem der europäischen Politik kommt kein Staatsmann hinweg.
Die Industrialisierung Deutschlands hat seit 1870 die Bevölkerungsziffer Deutschlands von 40 auf 80 Millionen ansteigen lassen. Die Technik raste vorwärts und fragte nicht, was mit dem Überschuss an Menschen werden soll, den die Maschinen freisetzten und ums Brot brachten. Die Technik muss daher den Weg zu neuem Leben finden, indem sie Mittel erfindet, die es dem Menschen ermöglichen, bei ausreichendem Auskommen und gesenkter Arbeitszeit menschenwürdig leben zu können. Die Welt hat Brot für alle. Es fragt sich nur, ob menschenleere Räume erobert oder friedlich besiedelt werden sollen. Eroberung heißt Krieg. Besiedlung heißt internationales Übereinkommen über die Unterbringung des Bevölkerungsüberschusses. Nicht Gewalt, sondern nur Vernunft kann hier d i e Lösung finden. Was wir durchleben, ist keine bleibende Zeit, sondern nur Übergang von einer alten zu einer neuen Weltordnung. Was nützt es, die Menschen zusammenzuballen, dass keiner neben dem anderen mehr leben kann. Diese Zusammenballung birgt den Keim des Bruderkrieges in sich.
So sehe ich das Flüchtlingsproblem. Aus dem Osten strömen Millionen, aber die Millionen Fremdarbeiter aus dem Osten strömen nicht zurück. Angenommen, die Deutschen aus dem Osten bleiben aus nationalpolitischen Gründen nunmehr für immer im Reich und die Ostarbeiter kehren aus denselben Gründen heim. Dann ist immer noch zu prüfen, wie wir eine Vollbeschäftigung sichern. Meiner Meinung nach nur durch die Einschaltung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft. Das setzt die Preisgabe der Autarkie voraus. Es kann nur eine Weltwirtschaftsform geben. Die derzeitigen Wirtschaftsformen müssen daher einander angeglichen und ausgeglichen werden. Das ist nur möglich auf der Grundlage internationaler Übereinkommen, die keinen Fetzen Papier darstellen, also mit militärischen Mitteln gesichert sein müssen. Die Parole muss lauten: jedem ein menschenwürdiges Dasein!
Hier herrscht auch die Meinung vor, dass sich der Krieg seinem Ende rapid nähere. Bei allem ist es nötig, diszipliniert zu bleiben, um chaotische Verhältnisse mit deutschem Ordnungssinn a priori auszuschalten. Ruhe und Ordnung verbürgen Sicherheit, die Sicherheit den weiteren Ablauf der Dinge. Selbst wenn wir unterlägen, dürfen wir die Würde nicht verlieren. Man muss auch ein Unglück mit Selbstbewusstsein, Mut und Stolz tragen können. Das erst zwingt dem Gegner Respekt ab. Nur keine Würdelosigkeiten. Die Wehrmacht müsste zum Garant des inneren Friedens und der inneren Sicherheit werden. Sie müsste das Gesamtinteresse des ganzen Volkes und nicht etwas das einer bestimmten Gruppe von Interessenten im Auge behalten. Sie müsste vor allem darüber wachen, dass eine finanziell oder wirtschaftlich bevorrechtete Schicht nicht einen Teil der Wehrmacht gegen einen anderen ausspielt und gegeneinander hetzt, nur damit die Milliarden Einzelner behütet und die Interessen der Volksmassen geopfert werden. Das ist ein Führungsproblem. Ist der maßgebende Offizier ein Mann aus dem Volke, so steht er zum Volk. Ist er der Sohn eines Milliardärs, so steht er in den Augenblicken der Staatskrise zu den Milliarden seines Vaters, weil er ja dessen Erbe ist. Es erweist sich nur selten, dass der Fürstensohn in Momenten großer Volksentscheidungen sozial fühlt, denkt und handelt. Ist dem so, ist es ein Mensch, der durch seine Erfahrungen das Wesen der sozialen Probleme begriffen hat.
Meiner Meinung nach ist der Krieg militärisch bereits entschieden. Was zu lösen übrig bleibt, sind politische Probleme. Ihre Lösung wird nicht zuletzt von der Haltung der Wehrmacht abhängen. Was können wir, ja dürfen wir aus volksbiologischen Gründen noch opfern? Meiner bescheidenen Meinung nach haben wir uns volksbiologisch bereits verblutet, was sich in den kommenden 15 – 20 Jahren sehr am deutschen Volkskörper auswirken wird. Mir scheint, es wird uns gehen wie der Türkei nach dem Weltkrieg und Spanien nach dem letzten Bürgerkrieg. Darin liegt die Gefahr für die ganze Nation. Das Fazit solcher Überlegungen zwingt einen, Wege zu suchen, die zu einem menschenwürdigen Frieden führen.
Die Welt hat Grund, uns zu bewundern. Wir haben keinen Raum und keine Rohstoffe. Wir haben uns aus der Weltwirtschaft durch unsere Autarkiebestrebungen ausgeschaltet. Wie schalten wir uns ein, um zu Rohstoffen und Raum zu kommen? Wollen wir selbstmörderisch untergehen und damit jeden Glauben an uns selbst begraben, oder wollen wir einsichtsvoll einen anderen Weg wählen? Das Leben ist alles. Unser Tod nützt nur unserer Konkurrenz. Also müssen wir leben. Die Parole „Lieber stehend sterben als kniend leben“ ist nicht richtig.
Wir haben die Russen in jeder Beziehung unterschätzt. Es war der größte politische Fehler dieses Krieges, den Krieg mit Russland begonnen zu haben. Den Fehler sollte man einsehen und gutmachen. Wir brauchen den ukrainischen Weizen, wenn nicht diesen, dann den kanadischen oder australischen. Wir brauchen den chinesischen Reis, wenn nicht diesen, dann den aus Kalifornien. Wir brauchen Baumwolle aus Ägypten, Wolle aus dem britischen Weltreich, Erze aus Russland und vieles andere mehr. Wir können doch nicht unsere Wälder in buchstäblichem Sinne auffressen, um Deutschland verkarsten und so zur Wüste zu machen!
Die russischen Angriffe beweisen, dass sich nicht nur Lenin auf Clausewitz stützte, als er seine politische Strategie entwickelte, sondern dass auch die sowjetischen Generäle in der Tat etwas können.
Es freut mich immer, von Dir zu hören, dass Du Deinen Mann stellst. Nur eines gefiele mir nicht – sollte man Dich als vorlaut bezeichnen. Doch das ist leicht korrigierbar. Ansonsten bin ich mit Dir zufrieden. Dass Du mit dem Kopf durch die Wand willst glaube ich nicht. Dazu bist Du zu realistisch im Denken. Vielleicht gelingt es Dir, Führereigenschaften zu entwickeln. Du kennst meinen Standpunkt: es gibt „Führer“, die nur beherrschen können, weil sie keine Führer sind. Beherrschen endet mit Tyrannei. Der Motor allen Führens ist die Kameradschaft. Gerechtigkeit bei aller Strenge schafft Vertrauen bei den Geführten. Vertrauen ist die Grundlage der Kameradschaft. Solltest Du einmal – was ich Dir von Herzen wünsche – führen sollen oder müssen, dann führe mit Beispiel. Vorleben ist schwer, aber es ist alles. D a s macht den Führer aus. Nicht mehr wollen, als man den andern geben kann, nicht mehr verlangen, als man selbst zu leisten vermag. Solch ein Führer wird von seinen Leuten nie verlassen.
Wie weit bist Du mit Deiner Ausbildung? Bist Du gesund? Ich hoffe es.
Das Bild der Heimat ist unverändert. Panzersperren, Panzerfallen an allen möglichen und unmöglichen Punkten. Ich glaube in der Tat, dass ein sowjetischer Einfall ins hiesige Gebirge ungeheure Verluste an Panzern und Dazugehörigem mit sich bringen müsste. Schützenlöcher überall, die, wie Kriegsversehrte erklären, direkt zum „Mittun“ einladen, weil sie vom Gegner nicht ausgemacht werden können. Eben Gebirge. Alle Brücken sind miniert, Straßen und Gelände vermint. Alles in Alarmbereitschaft. Man rechnet mit sowjetischen Luftlandeaktionen. Ist geradezu absurd, dieser Gedanke, der mehr aus Angst denn aus Realismus geboren wurde. Seit wann setzt man Luftlandetruppen in Talschluchten und überhaupt in einem Gelände, wie dem unseren ab? Wäre ein Novum in der Kriegsgeschichte. Darauf werden sich die Russen bestimmt nicht einlassen. Sie werden, wie gesagt, nach Görlitz-Dresden, Cottbus-Berlin gehen, niemals aber unser Gebirge zum Aufmarschgebiet machen. Wenn eine Luftlandeaktion käme, dann bestimmt im flachen Vorgelände unseres Gebirges, also in der Gegend von Nachod, Königinhof, Neu-Paka, Semil-Turnau, um uns einzukesseln. Doch, wie gesagt, ich halte eine solche Aktion für unwahrscheinlich.
Die Trecks nehmen noch immer kein Ende. Flüchtlingselend über Elend. Du kannst Dir das in Deiner lebhaften Phantasie nicht ausmalen. Die Butter ist ausverkauft, es kommt keine nach. Nach Brot beginnt man hier Schlange zu stehen. Pferdefleisch gibt es in Hülle von den beim Treck umgekommenen und sofort zu schlachtenden Pferden. Rindfleisch ist reichlich vorhanden. Schweinefleisch und Fett leider nicht. Alle Häuser überbelegt, das Kino beschlagnahmt als Ruheplatz für durchziehende Flüchtlinge.
Mittwoch war ich in Hackelsdorf. Als der Autobus von Spindelmühle beim Bahnhofseingang vorfuhr, ließ man den Zug um 17 Uhr 55 kaltblütig abfahren. Um Null Uhr waren wir in Trautenau, um zwei Uhr nachts war ich daheim. Zu Fuß mit Hindernissen. Ausweisen in Niederaltstadt bei der Panzersperre, dann beim Rast machenden Treck zwischen Nieder- und Oberaltstadt verweilt und bei der Klug-Fabrik in Oberaltstadt wiederum Kontrolle durch die Wehrmacht und den Volkssturm. Zuletzt Halt bei der Panzersperre unterhalb der Hanke-Villa. Man fragte nach Woher und Wohin, Namen und Ähnlichem. Furchtbares Matschwetter. Ergebnis: nasse Füße – aber wie! Der rastende Trecke erlebte um Mitternacht mit mir um dreiviertel Eins das Grollen des schweren Bombenangriffs auf Dresden. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie deutlich die Detonationen der Bomben und das Feuer der Flak zu hören war. Der Himmel war sternenhell, die Luft strich von Nordwest. Dazu das Arifeuer hinter dem Gebirge. Im Riesengrund unterhalb der Schneekoppe wird schwere Artillerie montiert, um den Nachschub der Russen zu stören. Wird nie gefunden werden, weil zu gut versteckt. Daraus schließt man in unserer unmittelbaren Heimat auf eine Wendung der Dinge. Ist Illusion. Klar ist, dass der Krieg weitergeht.
Unsere Firma legt alle Baustellen still. Alles schanzt. Ein Teil der Gefolgschaft muss zur OT (Organisation Todt). Das betreffende Bataillon wird von Herrn Diplom-Ingenieur Dressler geführt. Unsere Ost-OT kam über Tschenstochau-Breslau-Reichenberg-Olmütz nach Fulnek oberhalb Mährisch-Weisskirchen! Unsere Westfront-OT mit Herrn Ing. Stolička an der Spitze, macht, wie er heute schreibt, Absetzbewegungen nach Ost.
Ich habe Mühe, den Werkküchenbetrieb sicherzustellen. Herr Vich muss im Protektorat umherfahren, damit er etwas Genießbares auftreibt. Im großen Ganzen berührt mich die Lage daheim nicht, denn ich bin seit Kriegsbeginn – wie Du weißt – keinen Sonntag daheim gewesen und konnte nie Urlaub nehmen. Bin also seit fünfeinhalb Jahren im Dauereinsatz. Das ist auch der Grund meines gegenwärtigen Gesundheitszustandes. Statt Medizin brauchte ich Milch. Ich habe Vollmacht, drei Tage in der Woche zu liegen: Samstag, Sonntag, Montag. Aber ich mache weiter. Lege ich mich erst einmal, dann fürchte ich, dass ich nicht mehr richtig aufkann.
In Bausnitz ist nichts Neues. Margit ist gesund aber traurig, weil wir ohne Post von Dir sind. Mutter wird ja geschrieben haben, wie es ihr geht. Sie sollte schanzen gehen. Ich habe ihr empfohlen, sich der Flüchtlingsfürsorge zu widmen, weil es hier an diesbezüglichen Kräften mangelt. Der Schanzbefehl betraf die ganze Etrich-Belegschaft. Was hörst Du aus Ludwigsfelde? Oberleutnant Kneifel, unser Bauleiter, wurde in der Slowakei verwundet. Der linken Hand wurde der Ringfinger und kleine Finger abgenommen. Von Kollegen Paiska, der in Dresden sitzt, erhielt ich eben einen Brief. Er schreibt, dass im Jänner der Postkontakt völlig unterbrochen war. Nun klappe es wieder. Kann sein, dass es bei Dir nun nicht klappen will, weil wir keine Nachricht erhalten können.

Ich hoffe, dass es Dir doch bald möglich ist, zu schreiben, wünsche Dir alles Gute, insbesondere recht viel Glück und grüße Dich herzlichst. Dein Vater.

 

Berlin, 18. 2. 45

Lieber Vater!

Als ich in Stahnsdorf ankam, fand ich vier Briefe von Dir vor. Zwei landeten nach langen Umwegen hier. Ich schicke Dir den Briefumschlag mit, damit Du Dir ein Bild machen kannst.
Die Marken habe ich auch bekommen. Ich danke Dir dafür von ganzem Herzen. Gestern habe ich mir Semmeln und Wurst gekauft. Das war wenigstens ein anständiges Essen. Mein Magen ist wieder in Ordnung.
Wir gehen jeden Tag schippen. Nach Teltow, sieben Kilometer weg von hier. Der Marsch ist immer scheußlich. Gestern machten wir einen rasenden Gewaltmarsch mit Tornister, Gewehr usw. Meiner Meinung nach sind die Stellungen, die wir bauen, völlig zwecklos.
Wenn wir abends um sechs Uhr in die Kaserne kommen gibt es kein Licht. Da döst man bei Kerzenlicht, kann nicht schreiben, nichts kann man tun.
Es gibt keinen freien Sonntag. Immer Dienst, schippen, stur immer weiter. Tag für Tag – Es gibt keine Freude mehr in unserem Leben. Man findet kein Verständnis für unsere Sorgen und Nöte. Unser Wachtmeister ist ein Ekel, wie ich es noch nie erlebt habe. Der schikaniert uns – ach, am besten ich erzähle nichts. Ich bin mit meinen Nerven total fertig. Ich kann mir nicht helfen. Wir jungen Soldaten sind immer nur die Spunde, die nichts leisten. Man schnauzt uns dauernd an usw. usw. Mir hängt alles zum Halse heraus. Noch nie war ich so niedergedrückt, so deprimiert wie heute.
Ich sehe keinen Ausweg, kein Ende. Immer weiter trotten – Es gibt eben bei jedem Menschen manchmal so einen moralischen Kater; und den habe ich heute. Die letzte Nacht mussten wir Wache schieben.

Nur fort von hier –

Herzliche Grüße von Deinem Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 18. 2. 1945

Lieber Kurt!

Wir sind noch immer ohne Nachricht von Dir und machen uns große Sorgen um Dich. Was ist denn eigentlich los? Bist Du etwa erkrankt, verletzt oder funktioniert die Post nicht? Schreibe uns alsbald.
An Neuem wäre zu berichten, dass in bedrohten Reichsverteidigungsbezirken – wozu auch wir gehören – Standgerichte gebildet wurden, die für alle Straftaten zuständig sind, durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet sind. Das Urteil des Standgerichtes lautet auf Todesstrafe, Freisprechung oder Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit. Es bedarf der Bestätigung durch den Reichsverteidigungskommissar, der Ort, Zeit und Art der Vollstreckung bestimmt. Ist der Reichsverteidigungskommissar unerreichbar und sofortige Vollstreckung unumgänglich, so übt der Anklagevertreter diese Befugnis aus. Das Standgericht besteht aus einem Strafrichter als Vorsitzendem sowie einem Politischen Leiter oder Gliederungsführer der NSDAP und einem Offizier der Wehrmacht, der Waffen SS oder der Polizei als Beisitzer. Die Mitglieder des Standgerichts werden vom Reichsverteidigungskommissar (Gauleiter) ernannt. Er bestimmt einen Staatsanwalt als Anklagevertreter. Das Standgericht übt seine Befugnis ab 15. 2. 1945 aus.
„Gefährdung der Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit.“ Juristisch ist dies ein umfassender Begriff. In den Ausführungsbestimmungen müsste gesagt sein, w a s in der Tat diesen Begriff ausmacht. Die unbedachte Äußerung eines Menschen kann als Gefährdung der Kampfkraft und Kampfentschlossenheit ausgelegt werden. Menschen, die ernst genug sind, schöpferische, als positive Kritik an gewissen Erscheinungen im Staatsapparat zu üben, werden sich hüten, etwas zu erwähnen, was auszumerzen notwendig erscheint. Wenn man zum Beispiel das völlig unzulängliche Verhalten der Bahnpolizei bei der vorgesetzten Instanz zur Sprache bringt und Abänderung verlangt, kann dies als „Kritik an einer Reichsbehörde“ ausgelegt und vielleicht gar bestraft werden. Oder wenn mangelnde organisatorische Fähigkeit auf diversen Abteilungen des Landrates festgestellt wird, muss man dem zusehen, auch wenn es der Sache des Volkes schadet. (Wir müssen Schlange stehen nach Brot, es gibt keine Butter, Margarine ausverkauft und anderes mehr). Es versagt also etwas im Verwaltungsapparat des Staates. Man trägt nicht Sorge, die Flüchtlinge planmäßig zu versorgen und die Werktätigen einkaufsmäßig zu entlasten. Die Flüchtlinge kaufen alles auf. Um 10 Uhr vormittags gibt es kein Brot mehr. Wir müssen uns also vor sieben Uhr anstellen, um nach acht Uhr dranzukommen. Irgendetwas klappt nicht. Angeblich habe es Lebensmittel genug, nur an Bäckern fehle es. Für Trautenau werden 26 Bäcker zum Soforteinsatz gesucht, ferner Fleischer, die sich der bei den Trecks ausfallenden Pferde annehmen, um das Fleisch nicht verfaulen lassen zu müssen. Das Flüchtlingselend hält an. Die Trecks ziehen weiter gegen den Böhmerwald. Mit ihnen Kriegsgefangene in Scharen. Wir fahren mit sehr großen Verspätungen aus dem Dienst.
Schwere Kämpfe im Raum Breslau-Guben. An den Flanken der Ostfront deutsche Gegenangriffe. (Raum von Stettin und Raum von Stuhlweissenburg). Sagan gefallen. Die „Zeit“ von gestern schreibt, dass die Russen nördlich Forst (also vor Kottbus) stehen. Ebenso beiderseits Löwenberg, im Raum von Sorau. Im Raum Bunzlau-Guben deutsche Aktivität. Sowjetische Brückenköpfe über die Neiße zerschlagen. Russen bei Naumburg am Bober und Crossen aufgefangen. Dabei fiel Grünberg in Feindeshand.
Hier wird der Befestigungsbau mit allen Kräften wochentags und sonntags bei Tag und Nacht fortgesetzt. Sonst nichts Neues. Es sei: schwangere Frauen und Mütter mit mehreren Kindern werden erfasst, um gegebenenfalls evakuiert zu werden. Auch Kranke, alte und gebrechliche wie waffen- und wehrunfähige Personen kommen fort.

 

Trautenau, den 19. 2. 1945

Lieber Kurt!

Auch heute fehlt eine Nachricht von Dir. Was mag nur eigentlich los sein. Ist Dresden schuld oder Magdeburg? Unsere Sorge wird immer größer! Hast Du Verbindung mit Bausnitz (Gerda)? Gestern habe ich Margit besucht. Wir erzählten von Dir und kombinierten bis zur seelischen Ermüdung.
Hier ist die Lage verschärft. Schwangere, Mütter mit mehreren Kindern, Kranke, Gebrechlich und Wehr- und Waffenunfähige dürfen nach durchgeführter Erhebung durch den Blockleiter der NSDAP den Kreis Trautenau verlassen. Sollten wir evakuiert werden müssen, wird dies der Kreisleiter rechtzeitig bekannt geben. Alle wehrfähigen Männer bleiben hier und haben die Stadt bis zum Letzten zu verteidigen. Es herrscht große Nervosität. Viele Packen. Ich nicht! Ich bleibe, was auch Mutter, Familie Schleif und viele andere wollen. Wir wollen nicht auf der Landstraße umkommen.
Der Strom der Flüchtlinge wälzt sich in gleicher Breit und Tiefe durch die Stadt. Schon fast drei Wochen hindurch. Ebenso die Kette der Trecks, der Wehrmachtstransporte usw. Der Kampf ums Brot beginnt. Butter gibt es keine. Es muss, wenn vorrätig, Margarine genommen werden.
Unser Büro fängt an, sich zu leeren. Die meisten Ingenieure müssen fort (einrücken). Der Volkssturm holt uns alle ausbildungsfähigen Männer. So dass die aufzustellende OT-Kompanie ins Wasser gefallen ist. Herr Mann musste auch einrücken, trotz seines steifen Beines. Macht Dienst bei seinem früheren Breslauer, nun hier stationierten Bataillon. Er ist als Ausbildungskraft eingesetzt, weil fronterfahren.
Die „Zeit“ meldet Vorstöße gegen das Waldenburger und Mährisch-Ostrauer Industrierevier vereitelt. Die Russen westlich Halbau-Rauscha, in Linie Crossen/Oder-Lauban, wobei beide Städte in deutscher Hand sind. Nördlich Sorau konnten die Sowjets den Neiße-Abschnitt erreichen, stehen als nördlich Görlitz. Wir hier sind praktisch überflügelt oder wie man auch sagt „ausgespart“. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass sich bei Ostrau der Einbruch gegen die mährische Senke abzeichnet, also gegen Olmütz zielt, um von hier offenbar gegen Prag zu drehen. In Ungarn lebhafte beiderseitige Aktivitäten.
Im Protektorat gerüchteweise zweieinhalb Millionen deutsche Truppen mit Wlassow-Verbänden, sei es gegen Osten zu stoßen, sei es Oststoß hier aufzufangen. Sowjets planen Operationen von weittragender Bedeutung. Deutsche Gegenmaßnahmen sind im Gange. So, das wäre das Wichtigste, was der Presse zu entnehmen ist. Für heute will ich schließen in der Hoffnung, doch bald von Dir einige Zeilen zu erhalten.

Ich wünsche Dir alles Gute, recht viel Glück und grüße Dich aufs herzlichste.

 

Trautenau, 22. 2. 1945

Lieber Kurt!

Noch immer fehlt eine Nachricht von Dir. Wir alle weilen in Gedanken bei Dir und warten sehnsüchtig auf einige Zeilen. Schreibe uns doch bald.
Das jüngste Bild der Heimat ist unverändert. Die Trecks ziehen noch immer durch unsere Stadt, rund 30 000 Personen werden hier täglich beherbergt und tags darauf oder nach wenigen Tagen weitergeleitet. Das wirkt sich auf die Ernährung aus. Heute ergatterte ich ein halbes Kilo Butter. Es war die letzte. Ab sofort erhalten Butter nur noch Kinder. Nachdem die Flüchtlinge die Stadt ausgekauft (sagen wir es unverblümt: ausgefressen) hatten, kam man auf den Gedanken, sie durch die Wehrmacht zu verpflegen. Diese Idee hätte man vor vier Wochen haben sollen. Aber die besten Vorschläge der Volksgenossen nützen nichts, wenn diese nicht irgendwie „beamtet“ sind. Es scheinen nur offizielle Einfälle Aussicht auf Realisierung zu haben. Nun kann man wieder, wenn auch mit einiger Fixigkeit, zu Brot kommen. Man muss sich eben Punkt Uhr (wie befohlen) zur Tür des Bäckerladens stellen. Macht nichts. Die Arbeit kann warten. Es geht ja nicht mehr um Neu- sondern um Endaufträge! Man nennt das die „Endfertigung“. Am Ende werden wir doch bald fertig. –
Vergangenen Samstag (17.) fielen beim Arbeitsamt in Hohenelbe zwei Feindbomben kleineren Kalibers. Offenbar russischen Ursprungs. Gestern früh gegen acht Uhr zwei Bomben in die Weigelsdorfer Straße. Eine Frau, die eben ihre Hühner fütterte, erlitt den Tod durch Splitter. Ihr Mann ist schwer verwundet. Sonst kein Schaden, wenn man vom Haus und den umliegenden Fensterscheiben absieht. Die Bevölkerung ist nervös. Luftalarm wird nicht mehr gegeben, weil wir Kriegsgebiet geworden sind.
In unserer Heimat ist die Maul und Klauenseuche ausgebrochen. Wurde mit den Osttrecks eingeschleppt. Böse Sache! Nun fällt vielerorts die Milch aus und Rindfleisch an. Wird aber eingegraben, weil ungenießbar. Nicht nur Tiere, auch Menschen bleiben am Rande der Trecks. Sie sterben unterwegs, werden zur Seite geschoben und der Treck muss weiter. Um die Leichen kümmert sich die Ortspolizei. Russische Kriegsgefangene wurden um Neu-Paka herum hungrig und stürmten die Bäckerläden. Sieben Mann wurden daraufhin von der Wache erschossen. Das war der Anlass, dass die tschechische Bevölkerung mit Massen von Brot und anderen Nahrungsmitteln kam, um die Russen zu sättigen. Da die Wache auch mitessen musste (weil ebenso hungrig), ließ man die Russen gewähren, bis ein Fabrikant die Staatsorgane zum Einschreiten veranlasste. Wie ich höre, werden aber die Kriegsgefangenen weiter von den Tschechen verpflegt.
Mühlen geben einfach Bäckern Mehl, damit diese Brot backen können. Als die deutschen Trecks durch tschechisches Gebiet zogen, boten die Tschechen Nahrungsmittel an und wurden von den Ostdeutschen für dieses Zeichen der Gastfreundschaft angespuckt. So war es. Jetzt ist es so, dass die Treckler die Tschechen um etwas Essbares bitten und sagen, sie hätten nicht gedacht, dass die Tschechen so zivilisiert seien. Wie muss es nur im Osten zugegangen sein, dass man die Tschechen so einseitig beurteilte.
Herr Richard Tippelt, ein Bruder meiner Kollegin, kam aus Ostpreußen nach Tetschen-Bodenbach und rief, da sein Lazarettzug warten musste, seinen Bruder Gustav in Aussig an, er möge ihm etwa zu essen bringen. Der setzte sich aufs Rad und preschte in der Nacht nach Bodenbach, wo er seinem Bruder belegte Brote überreichen konnte. Die Lazarettzug-Insassen müssen nicht wenig Kohldampf geschoben haben.
So also schließe ich und hoffe, dass Dich meine Zeilen bei bester Gesundheit erreichen.

Mit gleicher Post gehen zwei Nummern des „Neuen Tag“ ab. Alles Gute und recht herzliche Grüße.

 

Trautenau, den 22. 2. 1945

Lieber Kurt!

Ich erhielt heute einige nach Belin-Stahnsdorf übersandte Briefe zurück und leite diese nun wiederum nach Bln.-Stahnsdorf, von wo ich die Fortsetzung Deines Briefes und eine kurze Mitteilung (2.Alarmkomp.) eben heute erhalten hatte. Hast Du den Brief mit den Lebensmittelmarken erhalten? Es war ein erheblicher Zuschuss. Sollten diese verspätet einlangen, lasse diese beim nächsten Ernährungsamt gegen Reisemarken umtauschen, wenn dies nur halbwegs möglich ist. Ich schreibe Dir zuweilen täglich ein paar Zeilen, oder jeden zweiten Tag, niemals aber weniger in der Woche zweimal. Du müsstest also eine ganze Anzahl Briefe erhalten haben. Am 14. 2. schreibst Du, dass Du nicht weißt, ob mich Deine Zeilen noch erreichen werden. Wie Du siehst, sind Deine am 16. 2. zur Post gegebenen Briefe hier eingelangt, wenn auch nach sechs Postlauftagen. Über Görlitz wird wohl nichts mehr gehen. Schreibe trotzdem weiter und wenn es nur die bekannten vier Worte sind : „Ich lebe, bin gesund.“
Die Front zieht sich hinter dem Gebirge hin. Meine Briefe sagen Dir diesbezüglich alles.
Deine An- und Einsicht spendet mir viel Trost. Wir wollen einander nicht verlieren und deshalb werden wir die Heimat nur verlassen, wenn militärische Gewalt uns hierzu nötigt. Niemand will evakuiert werden. Die Frauen sind sehr standhaft, bis auf einige hysterische Weiber. Die Männer müssen ohnedies hier bleiben. Wir alle wollen aus dem Schlamassel heil herauskommen.
Deine Zeilen haben mich ungemein gefreut. Ich war schon in großer Sorge.
Ich will hoffen, dass Deine Zeilen vom 14. 2. ein gutes Omen für die Wiederaufnahme unseres Kontaktes sind, wünsche Dir zu allem, was Du unternehmen musst oder willst, viel, viel Glück und grüße Dich herzlichst.

 

25. 2. 1945

Liebe Eltern!

Ich will Euch noch kurz mitteilen, dass ich ins Lazarett komme. Man muss mir den Blinddarm herausnehmen. Seid unbesorgt, ich werde schon alles überstehen.

Grüßt mir Margit und Oma!

Euer Kurt.

(Wie Kurt später offenbarte, war die Krankheit vorgetäuscht. Die näheren Umstände hat er nach dem Krieg beschrieben. Siehe „Ohnmacht am Teltowkanal“)

 

Berlin-Tempelhof, den 27. 2. 1945

Lieber Vater!

Du wirst sicher schon besorgt sein. Ich habe ja auch schon über eine Woche nicht geschrieben und inzwischen bin ich ins Lazarett gekommen. Man hatte mich mit Blinddarmverdacht eingeliefert und wollte mich auch operieren. Wie es dann so weit war, hieß es wieder: Sie werden nicht mehr operiert. Warum, das weiß ich selbst nicht. Nach dreitägigem Fasten bekam ich endlich etwas zu essen. Aber nur flüssige Sachen.
Die Schmerzen im Unterleib haben schon nachgelassen. Nur wenn ich aufstehe fühle ich mich ganz schwach. Die Beine halten mich kaum. Weil ich schon so lange nichts gegessen habe.
Aber weißt Du, es liegt sich schön in den weißen sauberen Betten. Besser als in den Holzgestellen mit den schmutzigen Decken. Nur der Fliegeralarm jeden Abend, der ist lästig. Gestern hat’s gekracht bei uns, der ganze Keller hat geschaukelt. Die Kantine haben sie getroffen; war aber nicht schlimm. Die Innenstadt hat wieder viel abbekommen. Berlin war einmal.
Ich las dieser Tage einen Artikel von Ley im „Angriff“. Weißt Du, mich wollte die Wut packen. Man hält das Volk für so dumm, dass man glaubt, ihm solche Märchen andrehen und vorschwindeln zu können. Wo doch alle genau wissen, wie es wirklich ist. Wenn später noch einmal rückblickend alles betrachtet werden wird – was wir da noch ans Tageslicht kommen!
So, nun will ich wieder einmal schließen.

Herzliche Grüße von Deinen Sohn Kurt.

 

Berlin-Tempelhof / Kriegslazarett 28. 2. 1945

Lieber Vater!

Endlich fällt es mir ein, dass ich Dir mitteilen sollte, wann ich meinen Koffer aus Liegnitz weggeschickt habe. Also es war der19. 1. 45, abends um 18 Uhr habe ich ihn aufgegeben. Der Koffer ist bestimmt schon zu Hause.
Mir geht es wieder gut. Ich muss nur fest essen, damit ich wieder Mumm in die Knochen bekomme.
Wie geht’s denn daheim? Im Büro?
Ich wünsche Dir alles Gute.

Dein Sohn Kurt.

Trautenau, den 1. 3. 1945

Lieber Kurt!

Deine lieben Zeilen aus Potsdam, die Du am 12. 2. d. J. schriebst und am gleichen Tag zur Post gabst, habe ich heute früh erhalten. Nach vielen Tagen Wartens wieder eine Nachricht. Wie ich schon in vorhergehenden Briefen erwähnte, schreibe ich Dir in der Woche mindestens dreimal, wenn nicht öfter. Ich bin daher erstaunt, dass Du von hier keine Nachricht erhältst.
Dass Du mir keine Anschrift aus Potsdam bekannt gabst, beunruhigt mich. Ich schreibe daher auf gut Glück nach Bln.-Stahnsdorf, Ludendorff-Kaserne. Möge ein zauberhaftes Wesen meine Zeilen in Deine Hände geleiten.
Was sein wird? Das Ende ist nahe. v. Wülknitz schreibt im „Neuen Tag“ von der „Ruhe vor dem Sturm“, der aus dem Osten noch kommen soll. v.Dittmar sagte diesen Dienstag auch, dass ein „großer Schlag aus dem Osten“ noch kommen werde. Goebbels sagte gestern, (ich hörte es selbst nicht, da verreist), dass wir unbedingt siegen werden. Nicht zuletzt sagte dies auch der Führer in seiner Botschaft zur Gründung der NSDAP vor 25 Jahren.
Indes hat man uns die Rationen gekürzt. Brot um 1000 Gramm, Butter u.a.m. Die Schwerarbeiterkarten wurden wiederum halbiert und die Langarbeiterkarten ganz gestrichen, den Werkküchen ab sofort die bisherige Zusatzgernährung gestrichen.
Im Westen nähert sich die Schlacht an der Roer dem Ende. Roersenke trotz Überflutung überschritten. Von Linnich, Jülich und Düren aus drangen die Angriffskeile strahlenförmig längs der großen Landstraßen vor. (Lt. „Neuem Tag“). Stärkste Kräfte in der Mitte der Westfront angesetzt. Stoßrichtung Ruhrgebiet. In der Slowakei russische Offensive. Neuer Angriff der Sowjets bei Zopten, Vorstöße bei Striegau und Jauer. Bei Lauban und Görlitz deutscher Gegenschlag. (Ich zitiere fortlaufen den „Neuen Tag“). Lausitzer Neiße: Nachlassen der feindlichen Aktivität. Zwischen Neu-Stettin und Konitz (Pommern) russischer Durchbruch.
Hauptbereichsleiter Bruno Walter (Prag) wurde während einer Dienstreise im Protektorat von tschechischen Partisanen erschossen. Er war der ständige Vertreter des Leiters der Partei-Verbindungsstelle in Böhmen-Mähren. Er war in dieser Eigenschaft Reichsamtsleiter.
Derzeit große Unterhausdebatte im englischen Parlament. Churchill berichtet über die Krimkonferenz mit Stalin und Roosevelt. Der Engländer sagt: „Es muss etwas geschehen…“
Das meinen wir auch. So kann es nicht weiter gehen. Der Flüchtlingsstrom passiert unverändert Trautenau. Waldenburg, Hirschberg, Krummhübel, Kynast im Riesengebirge (Nordhang) und andere Orte werden neben Reichenberg und Gablonz evakuiert. Wir bleiben. Im Protektorat heißt es: „Wer bleibt, beweist seine Sympathie mit den Russen.“ Das gilt halt für die Tschechen. Hier wird gesagt: „Bevor wir die anderen in unsere Wohnungen setzen lassen, bleiben wir gleich selber.“ Es gehen die Blockleiter fragen, wer freiwillig gehen will. Es meldet sich niemand. Jeden graust es vor dem Flüchtlingselend. Dann lieber bleiben auf alle Gefahr!
Ich bin Sonntag wieder in Bausnitz, weil Margit frei hat. Wir werden Dir von zu Hause schreiben.
Wir sind Treibholz im Strom des Geschehens. Leider! Die Wogen der Meinungen gehen hoch und nieder. Der Schuldige will den Unschuldigen mitreißen. Viele schweigen sich aus und haben „für die letzten zwei Stunden“ ihren Plan. „Reissausplan“. Sie haben nur nicht den Mut, es dem Nachbarn zu sagen. Die Ausreißer sind in der Regel die Neunmalklugen und die Money-Onkels- und Tanten. Wir türmen nicht. Sind ja geschützt mit lauter Festungswällen improvisierter Art. Wenn schon… Bleib heil und sei herzlichst gegrüßt von uns allen.

 

Trautenau, den 2. 3. 1945

Lieber Kurt!

Ich sende wiederum einige Zeilen auf die Reise in der Hoffnung, dass diese Dich auch erreichen. Einer meiner Briefe wird wohl doch in Deinen Besitz gelangen.
Diesem Brief liegt die „Zeit“ vom 28. 2. 45 bei. Lese den Leitartikel von Prof. Dr. W. Brachmann „Unsere Möglichkeiten“. Was ist noch möglich? Wir arbeiten und vergessen uns selbst. Vergessen, dass wir Ordnung zu machen hätten in unseren Herzen und Hirnen, in unseren Schubladen und Truhen, um bereit zu sein, wenn die Stunde des Schicksals ruft. Alles spricht von der Kürzung der Rationen und vom verlangten gesteigerten Einsatz. Mit weniger Dampf schneller fahren! Wie macht man das? Uns drücken vielerlei Sorgen. Vor allem um Euch dort draußen, von denen wir nicht wissen, wo ihr seid, was ihr tut, wie ihr lebt und was ihr denkt. Wir denken an die zarte Blüte der deutschen Nation, die in der Kälte des Todes erfrieren soll. Wir hier stehen unter Kriegsrecht.
Indes wir uns Gedanken über das Kommende machen, zieht das Elend der Geflüchteten an uns vorbei, wummert Grollen der Ari-Abschüsse aus dem schlesischen Nachbargebiet in unseren Ohren, jagt ein Gerücht das andere, eine Meldung die andre. Der Sieg aber wird unser. Wir werden den Feind aus dem Land jagen, um im Osten wieder anbauen zu können. Man setzt alle Hoffnungen auf unseren von Süden zu führenden Flankenstoß gegen die Armee Konjew, die in Schlesien operiert. Vom Riesengebirge aus soll der Stoß geführt werden. Ab tausend Meter Höhe darf niemand in die Berge. Im Riesengrund sollen V-Waffen montiert werden. Es wird bestimmt interessant sein. Der Gegner wird uns nicht finden, weil das Gelände zu schluchtenreich ist. Du kennst es ja.
Deine Schule ist, wie alle anderen, Unterkunftslager geworden. Das Kino ist auch besetzt. Wenn ich Zeit hätte, Dir mancherlei Episoden zu schildern, könntest Du Soziologie in der Praxis studieren. Leider jagt mich das Pflichtgefühl, wenn ich fürchte, die Zeit, die mir für einen Brief an Dich bleibt, zu überschreiten. Dann bricht man den Brief ab, weil die Uhr es gebietet oder die Notwendigkeit, sich etwas Essbares zu verschaffen.
So ist es auch heute. Die Lebensmittelkarten kommen erst nächsten Donnerstag, der neunten einzusparenden Woche wegen. Also heißt es, etwas auszuklügeln, damit der Magen nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Wenn er knurrt, pflanzt sich das Grollen zum Gehirn fort, wo die Entscheidung fällt, ob man seinem Gefühl Ausdruck geben soll oder nicht. Wenn ja, wie, wann, an welchem Ort? Man sagt dann: „Mich hungert.“ Hat man das aber nach dem bestehenden Standrecht zu sagen? Also beginnt das Hin und Her des Ja und Nein. Und da das Hirn der Zunge zu befehlen hat, regt sie sich und formt den Gedanken zum Wort. Manchmal ist lautes Denken unerwünscht, auch unerlaubt. Aber der Mensch soll aus seinem Herzen keine Mördergrube machen und sich nicht selber etwas einreden, vorreden, ausreden, sich selber belügen. Er soll sich selbst die Wahrheit eingestehen und seine Umgebung nicht täuschen über sein Wohlergehen. Warum sagt er, wenn man ihn fragt, wie es ihm gehe „Danke, gut“? wenn es ihm schlecht geht. Weil er eitel ist und nicht die Wahrheit sagen will. Die Wahrheit soll man sagen lernen und der, der sie zu hören hat, soll lernen, sie zu hören und damit zu ertragen. Nur so finden wir in Wahrheit zueinander und können uns aufeinander verlassen.

Alles Gute, viel Glück, herzliche Grüße.

 

Potsdam 4. 3. 45

Lieber Vater!

Gestern wurde ich aus dem Lazarett entlassen. Ich bin wieder gesund. Als ich nach Stahnsdorf kam erfuhr ich, dass meine Kameraden am 1. 3. nach Zerbst versetzt worden sind. Ich wurde auch sofort in Marsch gesetzt und soll hier in Potsdam neu eingekleidet werden. Dann fahre ich sofort weiter nach Zerbst. Nun kann ich endlich den ROB-Lehrgang machen. Der dauert vier Monate. Ich bin heilfroh, dass ich aus Berlin rauskomme. Das Pflaster wird allmählich zu heiß. In Zerbst gibt es dann auch wieder gutes Essen. Alles ist besser dort. Ich habe schon fast vier Wochen keine Post erhalten. Wie sieht’s denn zu Hause aus? Habt ihr noch Schnee? Wohl kaum. Geht Mama noch in die Arbeit? Was tut sich sonst?

Ich wünsche Dir alles Gute. Kurt

 

Zerbst, 6. 3. 1945

Lieber Vater!

Wundere Dich über nichts mehr! Von Berlin sollten wir hierher auf den ROB-Lehrgang. Schon zum zweiten Male. Hier fand ich auch zwei Briefe von Dir vor. Deine Nachrichten beunruhigen mich.
Lauft ja nicht weg von daheim. Mama soll in Bausnitz bleiben. Margit und Oma auch. Wenn einmal alles zu Ende ist – wo soll ich Euch denn dann finden? Ich hätte damit die Heimat verloren. Ich komme ja wieder. Macht Euch keinen Kummer. Die Post ist ein Sauhaufen. Hier in Zerbst baut man schon Sperren!! Wir müssen noch heute zurück nach Berlin. Uns fehlen noch vier Wochen Ausbildung. Ein Leerlauf jagt den anderen.
Wenn ich Dir schreibe, kannst Du ja Mama alles mitteilen. Lange geht wohl der ganze Zauber nicht mehr. Ich glaube, der Russe kommt nicht in den Sudetengau. Das Riesengebirge liegt ja davor.
Ich bitte Dich nochmals, sage Mama, dass sie nicht türmen soll. Sollen andere machen was sie wollen. Ich bin gesund und werde mich schon durchschlagen.
Grüße Mama, Margit und Oma!

Herzliche Grüße! Dein Sohn Kurt.

 

Berlin-Zehlendorf, 8. 3. 1945

Lieber Vater!

Ich kann mir nicht recht erklären, warum Ihr keine Post von mir bekommt. Daran ist sicher die Post schuld. Dein letzter Brief war vom 19. 2. d. J. Ich fand ihn in Zerbst vor mit dem vermerk: Zurück an Absender – Neue Anschrift abwarten. So wird es mit vielen Briefen an mich gehen, weil wir doch dauernd unterwegs sind. Ich schreibe Dir und Mama sooft ich Gelegenheit habe.
Augenblicklich sitzen wir in Zehlendorf in einem Hotel und wollen etwas zu Mittag essen. Dann fahren wir weiter nach Potsdam. Wo wir von dort wieder hingeschickt werden, wissen wir noch nicht.
In Zerbst und in Dessau baut man Straßensperren. Glaubt man denn wirklich, dass der Iwan bis dorthin vorstößt? Nun machen auch die Westmächte Großoffensive. In Köln wird gekämpft Wenn wir das Ruhrgebiet verlieren, was dann? Wo werden denn in Trautenau Stellungen gebaut? Gehst Du noch Samstagnachmittag ins Kino? Unsere Schule ist wohl noch gesperrt.
Ich schreibe gleichzeitig an Mama. Ein Brief muss doch schließlich ankommen. Es freut mich, dass Du bleibst, wo Du bist. Es ist sicher das Beste.

Ich wünsche Dir alles Gute und grüße Dich herzlich. Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 9. 3. 1945

Lieber Kurt!

Ich vermisse seit langem ein Lebenszeichen vor Dir und bin sehr besorgt um Dein Schicksal. Am Sonntag, 4. 3., war ich in Bausnitz und las Deinen an Mutter gerichteten Brief vom 14. 2. (aus Bln.-Stahnsdorf). Du verfolgtest an diesem Tage im Drahtfunk den Einflug nach Böhmen. Es ging um Prag, das schwer mitgenommen wurde. Frau Záběhlicky, eine Cousine von Frau Vogt, bei der ich in Prag-Weinberge wohnte, ist auch ausgebombt. Alles verbrannt. Der Karlsplatz und andere Teile der Stadt, insbesondere der ehemalige Wilson-Bahnhof, Masaryk-Bahnhof etc. getroffen. Kurzum – übel zugerichtet. Aus Wien schreibt der Bruder von Frau Vogt, dass die Stadt auch viele Angriffe zu überstehen hat. Ich glaube, dass Du in Berlin und Umgebung auch allerhand siehst. Warum schreibst Du nicht?
Einen heute zurückgekommenen Brief vom 6. 2., nach Zerbst adressiert, falte ich bei. Meine Post an Dich besteht leider in der letzten Zeit überhaupt aus derlei Rücksendungen. Wann wird wieder in normaler Kontakt hergestellt sein?
Gestern früh um sieben Uhr gab es für die Trautenauer eine „Sensation“. Zwei Deserteure, bzw. Feiglinge, Angehörige der Wehrmacht, wurden öffentlich hingerichtet. Die Hinrichtung erfolgte auf der Freyung, zwischen Kasernen und der Silbersteinstraße. Auf einer Wiese wurden zwei Pfähle eingerammt, die Delinquenten angebunden und erschossen. Die Wehrmacht war aufmarschiert, dazu der ganze Volkssturm von Trautenau. Die Bevölkerung sollte sich auch an der öffentlichen Hinrichtung beteiligen. Aus den umliegenden Häusern sahen verschiedene Menschen zu den Fenstern hinaus, um das „Schauspiel“ zu bestaunen. Gegen Abend des gestrigen Tages kündeten in der Stadt rote Plakate von der Hinrichtung und ihrer Ursache. Es wurde erklärt, dass durch den Zorn des Volkes hingerichtet wurden Nr.1 und Nr. 2 wegen feigen Verhaltens vor dem Feind. Die Verurteilten hätten ihre Kameraden im Stich gelassen und sich geweigert, für das Vaterland zu kämpfen, sie hätten sich geweigert, unsere Frauen und Kinder zu schützen. Sie seien den Tod in Schande gestorben, weil sie sich gefürchtet hätten, den Tod in Ehren zu sterben. – Der eine Bursch war 23, der andere 34 Jahre alt. Die Jugend jubelte: „Das war ja toll.“ Wir Erwachsenen sind anderer Meinung. Wir meinen, dass man die Hinrichtung nicht unter den Fenstern der Einwohner hätte vornehmen sollen. Überhaupt hat diese öffentliche Hinrichtung allerhand Meinungen ausgelöst und es gibt heiße Debatten um diese Frage.
Ich bin für militärische Tradition auch dort, wo der Tod gegen den Fahnenflüchtigen ausgesprochen wurde, um dem Gesetz Rechnung zu tragen. Ich habe den Eindruck, dass man psychologisch das Gegenteil erreichte, was man mit der öffentlichen Hinrichtung erzielen wollte. Wehrmacht und Volkssturm sollten gewarnt werden: „Wer versagt, erleidet dasselbe Schicksal!“ Es wird statt Gehorsam Furcht erzeugt. Und das ist nicht gut. Die soldatische Ehre soll bis zur letzten und wenn nötig traurigsten Konsequenz mit traditionellem Taktgefühl verteidigt werden. Die öffentlichen Hinrichtungen waren im Mittelalter ein Akt der Einschüchterung der breiten Massen. Wir nennen es das finstere Mittelalter. Haben wir es nötig, zu Methoden zu greifen, die uns dem Mittelalter nahe bringen?
Der eine Soldat, der ältere, soll seine Kameraden aufgefordert haben, die Waffen niederzulegen. Die Anklage lautete auf „Zersetzung der Wehrkraft“. Der andere wurde fahnenflüchtig und gefasst – Desertion! – Ich weiß, dass Du über meine Zeilen nachdenken wirst. Darum schreibe ich sie auch.
Bleibe vernünftig! Und schreibe recht bald!!

Ich wünsche Dir alles Gute, insbesondere Gesundheit und recht viel Soldatenglück. Mit herzlichsten Grüßen verbleibe ich…

 

10. 3. 1945

Lieber Vater!

Mir geht es soweit gut. Wir bleiben jetzt wohl bis Ende März in Stahnsdorf. Ich bin gesund. Die Zustände beim Barras kannst Du Dir nicht vorstellen. Was gibt’s Neues in der Heimat?

Herzliche Grüße Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 11. 3. 1945

Lieber Kurt!

Endlich ein Lebenszeichen. Nicht ohne Schreck las ich Deine Zeilen vom 25. 2., dass Du operiert werden solltest, nicht ohne Sorge nahm ich Kenntnis vom Inhalt Deines Briefes vom 27. 2. Ich hoffe, dass es Dir schon besser geht und Du nicht ernstlich krank wirst. Ich wünsche, dass Du gesund bleibst und bitte Dich, sich danach zu halten.
Du hast eine ungute Gewohnheit: immer wenn Du erhitzt bist oder etwas gegessen hast, was Durst erzeugt, trinkst Du bedenkenlos Wasser. Ich fürchte, dass es das ist, was Dich ins Lazarett brachte. Bedenke, dass in jedem Glas Wasser, das Du heute zu Dir nimmst, Typhusbakterien sein können. Der Luftkrieg ist nicht das letzte Stadium der Volksausrottung. Es kommen noch chemische Stoffe und Bakterien. Vergesse das nie!
Trinke immer nur gut gekochtes Wasser, sei es Kaffee, Tee, Suppen und ähnliche Flüssigkeiten. Lerne Dich beherrschen. Hast Du großen Durst und nichts Flüssiges in der Nähe, dann esse trockenes Brot mit großer Andacht. Der Durst vergeht. Nimm’ Dich zusammen. Lerne Dich beherrschen. Der Mensch hält es mindestens drei bis vier Tage ohne Wasser aus. Erst am fünften Tage tritt die Krisis ein, wenn er vier Tage auch nichts gegessen hat.
Du weißt, dass der menschliche Körper zu 75 % aus Wasser besteht. Führst Du dem Magen keines zu, holt er es aus den körperlichen Reservoiren, den Geweben. Höre also auf Deinen besorgten Vater und mache uns nicht Kummer durch jugendliche Gleichgültigkeit. Übernehme Dich auch nicht im körperlichen Schaffen. Alles hat seine Grenzen. Du bist noch ein halbes Kind, ein Jüngling erst. Du sollst erst zu leben beginnen. Darum bitte ich Dich, nie zu vergessen, dass Du Verpflichtungen hast. Diese in erster Linie Dir selbst gegenüber. Du hast noch zu lernen, Prüfungen zu bestehen und dann dem Leben zu geben, was es von Dir erwartet.
Beherzige bitte meine Worte. Das Leben steht über allem. Nicht nervös werden. Sich immer in der Gewalt haben. Du erhältst Deine Gesundheit auch nur, wenn Du Dir selbst gegenüber Disziplin übst. Denke über Dich nach mit der Dir eigenen Bildung, sei vernünftig und verliere niemals den Glauben an die Zukunft. Wir müssen leben um Deutschlands willen. Es sind schon zu viele gefallen. Wir müssen immer hoffen, dass es besser werde und es wird besser werden!
Neues kann ich nicht viel berichten. Es wird heimlich weitergepackt und offiziell erklärt, dass die Gefahr für uns gebannt sei. Wir sind angeblich Gefahrenzone 4; die Soldaten sagen Gefahrenzone 2. Die Brücken werden aber weiter vermint. Wälle (Sperren) weiter errichtet. Dieser Tage las ich, was ich Dir vor Wochen schrieb: Stoß gegen Ostrau – Wien und gegen Pressburg – Wien. Das erstere beginnt sich zu entwickeln, wie der heutige OK-Bericht erwähnte. In Pommern und Westpreußen (Danzig-Stettin) sehr schwere Kämpfe. Bei Küstrin Versuche, durchzustoßen. Fällt Stettin, ist Berlin von Nord und durch die Aktion nordöstlich Görlitz auch von Süd bedroht. Im Westen schwere Lage. Der Rhein erreicht und bei Remagen überschritten. Wir werden aber siegen, sagt die Führung. Sie muss es wissen und wir sollen vertrauen. Die Trecks werden hier nicht mehr so stark durchgeschleust. Werden umgeleitet, weil hier alles voll.
In Bausnitz nichts Neues. Ich bin gehetzt wie immer. Eben schlägt es 18 Uhr. Ich verlasse mich auf etwas Verspätung, schließlich mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehen und grüße Dich herzlichst. Werde nicht krank!

 

Trautenau, den 15. 3. 1945

Lieber Kurt!

Ich schrieb Dir kürzlich von der Hinrichtung zweier Deserteure. Sieben weitere wurden hier sang- und klanglos ins Jenseits geschickt.
Es mehren sich die Fälle von Alkoholvergiftungen mit tödlichem Ausgang. Die Menschen sind so hemmungslos in ihrer Sucht, dass sie nicht mehr prüfen, was sie trinken. Bei allen Fällen liegt Methylalkohol-Vergiftung vor. Bekanntlich ein Holzspiritus, der giftig ist. In Arnau erblindeten vor Monaten einige Personen durch den Genuss von Methylalkohol, einige, die mehr getrunken hatten (im ganzen zwei Stamperl) starben unter qualvollen Schmerzen. Aus Deiner Chemiestunde wirst Du wissen, dass Methyl das Radikal des Methans ist, ein Gas, das sich in Bergwerken und Sümpfen bildet. Bestandteil des Leuchtgases, brennbar, bildet mit Luft explosive Mischungen, in Bergwerken „schlagende Wetter“ genannt. Verwechsle chemische Radikale nicht mit den Radikalen (im politischen Sinne), unter denen man Menschen versteht, die von Grund auf umbauen wollen und bis zum Letzten entschlossen sind.
Ich schreibe Dir von den Methylalkohol-Vergiftungen, um Dir in Erinnerung zu rufen, da man nie genug vorsichtig sein kann. Unter anderen starb auch ein Angestellter der Lagerleitung in Hackelsdorf. Vormittag noch frisch und munter, gegen Abend tot. Zu Mittag bot ihm irgendwer einen Schnaps an und er anderen. So kommt es . . . Man muss sich auch den besten Freund gut ansehen, wenn er einem „einen Becher“ reicht. Letzten Endes stellt es sich heraus, dass der Secret Service hinter allem stand. Sei also vorsichtig. Ich bin es nicht minder.
Wie geht es Dir gesundheitlich? Ich hoff, dass Du Dich auf dem Wege zur restlosen Genesung befindest. Ist dem so, so geht einer meiner heißesten Wünsche in Erfüllung.
Halte Dich! Ich hoffe, Du verstehst mich. Wir alle sitzen auf einem Expressdampfer, der durch tanzende Wasserberge rast. „Einmal hinauf und einmal hinunter…“ Du erinnerst Dich an das Lied. Drum sagte Goebbels jüngstens: „Immer fest auf den Steuermann schauen…“ Dazwischen kann man OKW-Berichte lesen. Ich hoffe, Du liest Zeitungen zur Genüge. Hier nichts Neues, es sei denn, dass die Befestigungen verdichtet werden. Man kann nie wissen. – Trecks abgeflaut, Bahn Hirschberg-Görlitz frei. Wir fahren aber immer statt um 18 Uhr erst rund um 19 Uhr oder später ab nach Freiheit.
Muss leider schließen. Störung! Zum Raseur. Bleib gut beieinander (dass man Dich nicht zerreißt), werde recht bald gesund. Das Glück sei Dein steter Begleiter. Alles Gute und recht herzliche Grüße.

 

Berlin-Stahnsdorf 15. 3. 1945

Lieber Vater!

Heute bekam ich von Dir und Mutter je einen Brief; der von Dir war vom 9. 3., der andere vom 7. 3. Dein Brief brauchte sechs Tage. Das geht ja.
Ich bin nun wieder in Stahnsdorf in der Kaserne. Wir führen hier endlich wieder ein geregeltes Leben. Die letzten Wochen sind wir dauernd auf der Walze gewesen. Da konnte ja keine Verbindung zustande kommen. Ich hoffe, dass es jetzt besser wird.
Die Brotration wurde bei uns auch gekürzt. Laut Führerbefehl werden Leute gesucht, die freiwillig auf ihren Jugendzusatz verzichten. Bei Euch zu Hause wird ja auch Schmalhans Küchenmeister sein. Aber wir ertragen ja viel. Lange dauert der Krieg nicht mehr.
Zu dieser Hinrichtungs-Geschichte sage ich gar nichts. Es geschehen heut Dinge, bei denen sich mancher an den Kopf greift. Hier zum Beispiel versucht man, uns das Denken abzugewöhnen. Ich kann Dir nicht schildern, was wir manchmal für Debatten führen. Also, ganz wüst.
Inzwischen war ich zum zweiten Male in Zerbst. Weil uns allen aber noch vier Wochen Ausbildung fehlen, hat man uns wieder zurückgeschickt. Wir bleiben also voraussichtlich bis Mitte April hier in Stahnsdorf. Unser Zugführer ist uns unsympathisch. Ein Prolet. Er hat es nur bis zum Unterwachtmeister gebracht. Das ist so ein Dienstgrad, bei dm man hängen bleibt.
Mama schrieb, dass es zu Hause noch einmal tüchtig geschneit hat. Bei uns sitzen schon die ersten grünen Spitzen an den Zweigen und die Lerchen sind auch schon da. Weißt, wenn wir so marschieren und ich höre die Lerchen auf den Feldern singen, dann fühle ich mich so froh, so unbeschwert. Sie singen die gleichen Lieder wie in der Heimat. Und das ist so schön. Ich glaube, einer der noch nie fern von zu Hause war, kann nicht ermessen, was es heißt, daheim zu sein. Ach, nun fange ich wider an zu simulieren.
Ich wünsche Dir alles Gute, vor allem Gesundheit.

Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 18. März 1945

Lieber Kurt!

Nun habe ich vier Briefe auf einmal erhalten: vom 28. 2., 4., 6., und 8. 3. Vielen herzlichen Dank. Ich schrieb Dir zuletzt am 15. d. M. über die Methylalkohol-Vergiftungen und hoffe, dass Du meine Zeilen erhalten hast. Zu Deiner Orientierung teile ich mit, dass ich an folgenden Tagen an Dich schrieb:

15. 3.   11. 3.   9. 3.   2. 3.   1. 3.   22. 2.   22. 2.   19. 2.   18. 2.   16. 2.   8. 2.   6. 2.   4. 2.   1. 2.   28. 1.   24. 1.   23. 1.   22. 1.   21. 1.  18. 1.    15. 1.   10. 1.   9. 1.   7. 1.   4. 1.   1. 1.   29. 12.   26. 12.

Dazwischen sandte ich kurze Mitteilungen, beigefaltet den Zeitungen, die ich Dir laufend übersandte. Es waren Zettel in Postkartenformat, von deren Text ich keinen Durchschlag habe.
Im Brief vom 4. 2. lagen viele Lebensmittelmarken bei, zum Beispiel fünfeinhalb Kilo Brot, 0,95 Kilo Fleisch u.a.m. Der Brief vom 16. 2. kam heute, Sonntag, von Zerbst zurück. Ich falte ihn bei. Er ist recht ausführlich und nicht überholt. Alle zurückgekommenen Briefe werden von mir aus bestimmten Gründen geöffnet. Ich suche unter anderem die Lebensmittelmarken, die Du nicht erhalten haben wirst.
Dein Koffer, von dem Du im Brief vom 28. 2. schreibst, ist nach vierwöchiger Reise angekommen. Alles war in Ordnung. Nichts hat gefehlt.
Am 8. 3. schreibst Du, dass Du Dir nicht erklären kannst, warum wir keine Post erhalten. Ich vermute, dass die Transportlage es gegen alle Gebote der Psychologie gebot, irgendwo (vielleicht Berlin) liegende hunderttausende von Briefen einfach zu verbrennen. Feldpostbriefe sind schließlich keine Munition, keine Wehrmachts-Lebensmittel u.ä. Hier gibt es zum Beispiel kein Salz. Ich alarmiere alle zuständigen Ämter und Behörden, um für die Werkküchen Salz zu bekommen. Man antwortet mir: in Aussig liegen 50 Doppelzentner Salz für den Kreis Trautenau. Die Bahn lehnt ab, es zu transportieren, weil es kein Heeresgut ist. Nicht einmal bis Reichenberg wird es per Bahn geschafft, um von dort mit Trautenauer LKW abgeholt zu werden. Ich hoffe, dass Du das verstehst. Wer weiß, wie viel Post Bombenangriffen zum Opfer fällt. Es ist aber von Bedeutung, dass die Feldpost klappt, denn wir daheim werden unruhig, wenn wir ohne Nachrichten bleiben, wie ihr draußen nervös werdet, weil ihr nicht wisst, ob wir überhaupt noch am Leben sind. Also gebietet die Staatsraison ein klagloses Funktionieren der Post. Briefe sind seelische Kost, die wir brauchen wie das Brot als leibliche Stärkung.
Vom Sperren-Bau wäre zu sagen, dass er die ersten vier Wochen sporadisch durchgeführt wurde, vor allem vor Bahnhöfen, Brücken, Straßenkreuzungen, Fabriken. Nun wird systematischer gearbeitet. Sperren werden überall angelegt, wo es militärische Erfahrung gebietet. Stelle Dir die Stadt als Mittelpunkt von Wellenkreisen vor. Wellenkreise hast Du oft genug erzeugt, wenn Du einen Stein ins Wasser geworfen hattest. Gleich diesen Kreisen entstehen die Sperren. Engster Kreis: „Schwarzer Adler“ (Gaststätte), Bahnhofsbrücke, Gebirgsstraße-Lagerplatz-Pittel & Brausewetter, Kasernen, Reichsbank, Stadtpark-Rognitzer Straße, Krieblitz-Reichsstraße usw. bis sich die Orte um Trautenau zu einem Kreis vereinen. Zum Beispiel Rognitz, Adamstal, Sedlowitz, Radowenz, Petersdorf, Gabersdorf, Trautenbach, Jungbuch, Hartmannsdorf, Pilnikau, Altenbuch, Rognitz, wo sich der äußere Kreis schließt. Dazwischen liegen kleinere Kreise. Kurzum, ein tief gestaffeltes System von Gräben, Sperren, Aribunkern, MG-Nestern und was halt dazu gehört. Unser Chef ist Fachberater des Kreisleiters und des Landrates. Ihm stehen zur Seite die Herren Dressler, Bernhardt, Tengler, Veisser und Mach. Wir erhielten 40 italienische Arbeiter (geflüchtet aus Schlesien) und rund 70 Textilarbeiter der Firmen Kluge, Siemens und Etrich/Jungbuch zu Schanzarbeiten zugewiesen.
Ich muss für die Italiener eine neue Werkküche in Schwung bringen und mich um die Beschaffung der Schanzzulage (gleich einer Schwerarbeiterkarte) für die Textilarbeiter bekümmern. Morgen kommen gegen 100 OT-Männer mit Regierungsoberbaurat Klee, die ebenfalls zusammen mit uns die Schanzarbeiten weiterführen werden.
Wir haben vier Industriezentren: Ruhr, Saar, Mitteldeutschland und Oberschlesien.. Wenn wir die beiden ersteren verlieren sollten, muss man sich fragen, wie lange wir es mit Mitteldeutschland allein aushalten. Ich schätze bis Juli dieses Jahres, wenn der Friede nicht früher ausbrechen sollte.
Ins Kino konnten wir wochenlang nicht gehen, weil den Flüchtlingen als Rastplatz überlassen. Seit zwei Wochen wird wieder gespielt. Gestern „Die Frau meiner Träume“ mit Marika Rökk. Ein Farbfilm. Die Kolorierung beweist den technischen Fortschritt. Die Revue ist eine Augenweide. Die Rökk tanzt fabelhaft. Es ist nicht das Äußere, das ich bewundere, etwa „die nackten Beine“, um derentwillen mancher Geck ins Kino geht, sondern die große Kunst der Marika Rökk, die bestimmt einmalig ist, wie zum Beispiel die Sprachkunst eines Werner Kraus oder die mimische Kunst eines Heinrich George, dessen „Postmeister“ mir unvergesslich bleiben wird.
Die Wirtschaftsoberschule ist Durchgangslager für Flüchtlinge wie alle Schulen. Es wird in einigen Ausweichschulen stundenweise unterrichtet, jedoch nur in Volks- und Bürgerschulen.
Ist anzunehmen, dass Du nun endlich bleibst, wo Du bist? Um Dessau und Magdeburg regnet es oft Bomben. Hoffentlich bleibt Zerbst verschont. Berlin hatte vom 16. zum 17. den 25. Angriff. Ich zähle diese schon immer, weil ich Dich in Berlin wusste. In 25 aufeinander folgenden Nächten Angriffe mitzumachen ist wahrlich etwas Heroisches.
Wie schon erwähnt, wollen wir bleiben. Vorgestern schrieb die „Rundschau“, die Frauen müssten wissen, was sie zu packen haben, „wenn wir die Heimat verlassen müssten“. Ich würde dann auf alle Fälle bleiben, Mutter und Margit auch, weil wir ja alle „in Beschäftigung“ stehen und Beschäftigte müssen bleiben! Es wird übrigens wärmer und notfalls hauen wir ab in die Wälder und werden „Raubritter“, die sich bei Nacht die Verpflegung bei den Bauern holen. Irgendwie wollen wir uns am Leben erhalten. Glaube nach wie vor an einen Stoß über Ostrau gegen Olmütz-Prag bzw. über Weisskirchen gegen Göding-Wien, ferner gegen Pressburg-Wien-Linz und in Mitteldeutschland an die Endschlacht zwischen Oder und Elbe. Dittmar spricht sehr ernst, die Partei erzählt uns von Wunderwaffen, von Kindern bedienbar, von benzinlosen Flugzeugen und vom kommenden großen Schlag, der uns wieder die Ostgebiete sichern wird. Von dem großen Schlag“ hört man schon lange und zu oft, sodass er an Wucht verliert, je länger von ihm gesprochen wird. Vielleicht wird es ein Schlag gegen unsere Illusionen, – damit wir endlich erwachen und die Lage sehen wie sie ist.
Ich hoffe, dass Du endlich meine Briefe laufend erhältst. Wir werden den zuständigen Stellen klarmachen müssen, was es heißt, Heimat und Front ohne Verbindung zu lassen. Vielleicht kommt dann die Post auf andere Gedanken, statt unsere Briefe etwa zu vernichten, weil sie keinen Frachtraum hat. Mama arbeitet seit Tagen wieder. Die Adamstaler Fabrik soll zu irgendeinem Zweck „in Ordnung“ gebracht werden. Vorläufig sind nur fünf Frauen tätig. – Der Schnee ist bis gegen das Gebirge weg. Wir haben feuchtes und mildes Wetter. Oft Niederschläge und viel Morgennebel, der so dick ist, dass man von einer Straßenseite kaum auf die andere sieht. „Märzennebel bringt Sommergewitter“ sagt ein Bauernspruch. Kann sein, es gewittert . . .
In Bausnitz nichts von Belang. Mama fürchtet sich, Dir Neuigkeiten zu berichten. Du sollst nicht wissen, was daheim „geschieht“. Sie wurde eingeschüchtert. Kannst Dir denken von wem. Daheim warst du gut genug, um gewissen Herren zu helfen, jetzt bist du zu „dumm“, um Verständnis für gewisse Erscheinungen zu haben. Welch eine Dummheit im Orte.
Onkel Otto seit 18. 11. 44 in englischer Kriegsgefangenschaft. Nähere Anschrift kommt, schreibt heute Tante Josefine. Herr Baumeister bei seinem Sohne in Bayern, soll was „los“ sein mit ihm. Vielleicht verwundet. Im Büro nichts los.

Ich wünsche Dir alles Gute, Glück, Gesundheit und grüße Dich herzlichst.

 

Trautenau, den 22. 3. 1945

Lieber Kurt!

Zwölf Uhr. Eben heult die Sirene wie in den letzten Tagen immer um diese Zeit. Trotzdem: ich will Dir nur sagen, dass Dein Brief vom 10. d. M. samt Anlagen ankam. Vielen und herzlichen Dank. Ich wünsche nur, dass meine Zeilen Dich auch erreichen. Die Post von Berlin geht also nur mehr zehn Tage. Welch erfreulicher Fortschritt in dieser verwirrenden Zeit.
Deinen Tagebuchnotizen entnehme ich den Ablauf Deines Lebens. Jedes Deiner Worte seziere ich. Ein jedes erfreut mich Deiner Beobachtungsgabe wegen. Lerne scharf hinsehen und an scheinbar kleinsten Details das Leben studieren. Als „Schreiber“ wirst es einmal brauchen können. Aus heutigen Notizen mache dereinst Erzählungen. Darum trainiere Dein Gedächtnis. Und: gestalte Dein Weltbild der Zukunft. Versäume nicht, Unterschiede fein zu erkennen. Nach jeder Richtung hin. Später, wenn Du die Schulzeit um hast, einen Beruf haben wirst, freie Zeit anstreben wirst, um schreiben zu können, musst Du erst recht zu Büchern greifen, um das Leben in all seinen Formen zu studieren. Geschichte, Philosophie, Soziologie, also die Lehre von den Formen und Gesetzen menschlichen Zusammenlebens, Nationalökonomie, Politik.
Das Studium der sozialen Frage, die durch die wirtschaftliche und politische Benachteiligung der wirtschaftlich schwachen Schichten, also der Werktätigen (Arbeiter insbesondere) entsteht, lege ich Dir besonders ans Herz. Selbst wenn Du Millionär werden solltest, darfst Du es nicht aufgeben, diese Frage zu studieren, um unter anderem auch jene Literatur durchnehmen zu können, die sich mit der Lösung der heikelsten aller Probleme beschäftigt. Meine Lebensaufgabe hieß: wie helfe ich, die Arbeits- und Lebensbedingungen des schaffenden Menschen zu verbessern. Wie helfe ich am Ausbau der Gesetze zum Schutz des arbeitenden Menschen.
Was muss geschehen, damit der Mensch ein Recht auf Arbeit hat, ein Recht auf soziale und Altersfürsorge. Wie helfe ich einzelnen wirtschaftlich bedrängten Berufs- und Bevölkerungsschichten usw. Du kennst Weniges davon. Wir waren leider zu wenig zusammen, um das alles zu besprechen. Auch sind wir weit entfernte von Bibliotheken, die es ermöglichen, sich die entsprechende Literatur zu beschaffen. Das Thema Sozialversicherung allein ist es wert, laufend studiert zu werden. Darum hätte ich es gern gesehen, wenn Du einmal praktisch und theoretisch auf diesem Gebiet hättest arbeiten können, schriftstellerische Begabung vorausgesetzt, leitend zu wirken und damit genügend Freizeit zu haben zur Forschung und Erforschung aller sozialer Probleme, an deren Lösung dieser Krieg in einem Ausmaß Anteil hat, das heute kaum erkannt wird.
Wenn ich an die soziale Medizin denke, die sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Gesundheitszustand und den s o z i a l e n Lebensbedingungen der Bevölkerung beschäftigt, die soziale Hygiene, die Sozialversicherung, die Gewerbehygiene, die Schulgesundheitspflege, die Seuchenbekämpfung und die Wohnungshygiene umfasst, so erscheint mir meine heutige Stellung verglichen mit meiner früheren ein armseliges Dasein des langsam Dahinvegetierenden. Gehe ich an Kinderheimen, Kranken- und Altersheimen vorbei, rufe ich mir in Erinnerung, welche Unsummen von Kämpfen es kostete, bis das oder jenes Waisenhaus oder Ähnliches erbaut werden konnte.
Denk ich an die heutigen Verfallserscheinungen der Moral, tritt in meinem Bewusstsein das Wesen der Sozialethik vor mein geistigen Auge und ich frage mich: wann wird der Mensch wirklich ein Gemeinschaftsmensch und nicht mehr Egoist? Mein sozialer Dienst von heute reibt sich auf durch die Vielfalt des Kleinkrams. Ich handle mechanisch, ein Produkt der Unsumme diverser Arbeit. Wie gern würde ich wieder geistig schöpferisch tätig sein wollen. Allerdings nicht nach vorgeschriebener Marschroute, sondern nach meinem sozialen Gewissen, das mir gebietet, zu unterlassen, was ich nicht verantworten kann.
Dieses soziale Gewissen ist es, das mir gebietet, sich zurückzuziehen von Dingen, für die ich dereinst die Verantwortung nicht übernehmen will. Das ist es, was mich zwingt – auf alle Gefahr – meine warnende Stimme zu erheben gegen dies und jenes, das nicht dem Volkswohl sondern dem Gegenteil dient. Du kennst unsere hiesige Umwelt, ihr geistiges Niveau und damit ihre Einstellung zu allen Fragen des Lebens. Es gibt ihrer so wenig, die die Fähigkeit haben, die Dinge von einer höheren Warte aus zu beurteilen, die vielmehr alles aus der Froschperspektive sehen. Es ist schrecklich, solchen Menschen unterworfen zu sein. Wenn ich so daran denke, wie uns der Block- oder Zellenleiter behandeln … Mein Gott; uns diese Menschen wollen einer Idee dienen! So gehen sie vor und dienen in der Tat ihren triebhaften Instinkten, die sich nähren aus Missgunst, Neid und Hass. Es gibt auch andere, in anderen Orten allerdings.
Du fragst nach Neuigkeiten, lieber Junge. Was soll ich Dir schon schreiben?! Was ist noch erlaubt und fällt nicht unter die Gesetzgebung des Standgerichts? Man ist ein Sklave seiner selbst.
Für heute Abend acht Uhr bin ich zur NSDAP Jungbuch vorgeladen. „Geladen“ kann ich wohl nicht gut sagen. Eine Einladung, scheint mir, müsste anders verfasst sein, als meine „Vorladung“. Ich werde zwar „ersucht“, unbedingt zu erscheinen. Das „unbedingt“ hebt das „Ersuchen“ auf. Die Menschen scheinen weniger zu denken als gefühlsmäßig zu handeln. Sonst kämen sie darauf, dass das entweder kein guter Stil oder „diplomatischer“ Stil ist. Warum ich kommen soll, wird in der Aufforderung nicht gesagt. Ist auch so eine Art, den Menschen unvorbereitet vor vorbereitete Situationen zu stellen. Da merkst du gleich die „Gleichheit“ zwischen dem Befehl und dem Gehorsam. Zwischen diesen Begriffen gibt es keine Gleichung. Das wäre demokratisch. Man pfeift und du hast zu rennen. Basta! Wenn es dir nicht passt: adieu schöne Welt. Wir sind ihrer ohnedies zuviel auf deutschem Raum, also gibt es mehrere Lösungen für die Probleme der Überbevölkerung. Nun werde ich also hingehen, weil ich just der Schwächere in diesem „Spiel der Kräfte“ bin. Der Schwächere soll immer des Schutzes des Stärkeren sicher sein, sagte die christliche Moral. Doch was gilt heute schon als „Moral“. Morgen, mein Junge, kann ich Dir schreiben, um was es ging.
Wieder Alarm. Ich schreibe noch. – In Jungbuch fand man im Garten der Firma Etrich eine kleine Bombe. Offenbar russischen Ursprungs. Blindgänger. Wurde in der Aupa zur Explosion gebracht.
Es wird fieberhaft geschanzt. Kürzlich hörte ich im OKW-Bericht: „…durch Umgehen unserer befestigten Stellungen Einbruch erzielt, der sofort abgeriegelt wurde…“ So machen sie es. „Umgehen“. Herrgott, man müsste fahrbare Festungsgürtel montieren können. Das wäre etwas! Lebendig gewordenen Betonbunker, die sich dem Gegner überall in den Weg stellen. Du wirst sagen, die Russen haben etwas Ähnliches mit der Panzerrudeltaktik. Kannst Recht haben. Aber wir!
Dritter Alarm. Gestern Morgen vier Uhr – ich war auf dem Weg von Trübenwasser nach Trautenau, um nach Hackelsdorf zu fahren – hörte ich von fernher das Grollen explodierender Bomben. Es war wie das Echo des Angriffs auf Dresden, das man hier seinerzeit um 12 Uhr 40 nachts vernehmen konnte. Als ich so die Straße entlang ging, dachte ich: wer muss nun jetzt wieder für eine bessere Zukunft sterben? Wir alle sind in Gottes Hand, sagt der Volksmund, und fügt sich nach diesem Seufzer wiederum fatalistisch. Also warten wir wohl, bis Gott uns erlöst von der Pein dieses schrecklichsten aller bisherigen Kriege, als ob wir Blinde wären, die man unbedingt führen, in diesem Falle, herausführen muss aus einem Meer von Blut und Tränen. Wir scheinen nicht mehr herauszufinden. So blind sind wir geworden für unseren ureigensten Weg in die Zukunft.

Bleib gesund, mein Junge, und sei herzlich gegrüßt. Alles Kriegsglück sei mit Dir.

 

Trautenau, den 23. 3. 1945

Lieber Kurt!

Ich will Dir nun kurz berichten, warum ich gestern bei der NSDAP Jungbuch vorgeladen war.
1.) Wegen Industriespionage.
2.) Wegen Nichterfüllung des Dienstes beim Volkssturm.
Der „Industriespionage“ habe ich mich schuldig gemacht, weil ich die beim Landrat tätige Frau Rotter aus Jungbuch gefragt habe, ob ihr bekannt ist, dass zwei große Autobusse mit Siemens-Leuten von Jungbuch wegfuhren und ob etwa auch Herr Schwarz wegkomme.
Der Nichterfüllung des Dienstes im Volkssturm habe ich mich schuldig gemacht, weil ich vierzehn Mal gefehlt habe.
Ankläger ist offiziell der Führer der 1. Kompanie im Volkssturm Jungbuch, Herr Schwarz, jetzt Siemens-Werke Jungbuch, früher tätig gewesen in Berlin. Der 1. Kompanie gehörte auch ich an. Nun bin ich in der 2. Kompanie. Herr Sch. Hat einen „Zug“ auf mich. Kein Wunder, bin ich doch kein Preuße. Erstens, und zweitens stamme ich aus Mähren, nicht wahr. A dem so ist, erscheint eine an sich belanglose Frage als „Betriebsspionage“. Wenn’s einmal Bomben in Jungbuch regnen sollte, was der englische Luftmarschall Harris verhindern möge, dann darf niemand fragen, ob die Siemens-Werke etwas abbekommen haben. Denn das wäre „Industriespionage“.
Der Preuße sieht in uns Sudetendeutschen Verräter, Spione und ähnliche Elemente, die den reichsdeutschen Werken im Sudetengau den Garaus machen wollen. So ist das. Also muss man von Zeit zu Zeit, dass man sich dessen in Preußen bewusst ist, dass in Sudetien unzuverlässige Deutsche sind. Die Hauptsache ist, die Sudetendeutschen geben ihr Blut für Preußens Größe und Herrlichkeit. Wir Idioten! Wir Beutedeutschen! Wir Kriegsurheber mit unserem Ruf „Heim ins Reich“!
Der Bataillons-Chef im Jungbucher Volkssturm ist kein Schwarz. Er heißt Janka, Beamter der Firma Johann Etrich in Jungbuch. Netter Mensch. Der Ortsgruppenleiter Feist, beamtet wie Janka, ein feiner Mann. Ruhig, würdevoll, gelassen. Leider“ Sudeten – pardon – Beutedeutscher. Also ging die Sache mit dem Volkssturm aus wie das Hornberger Schießen.
Nachdem ich durch die kürzlich erfolgte Nachmusterung ins 4. Aufgebot kam, musste mir Janka auf höheren Befehl hin (Trautenau!) einen leichten Dienst zuweisen. Also wurde ich Schreibkraft des Bataillons. Gut. Statt für die Firma muss ich fürs Bataillon am Sonntag schreiben. Geht in Ordnung. Meine Feder ist bekannt . . . Jedoch sie ruht seit Jahren Während ein Schütze mit der Flinte immer nur ein Opfer traf, traf ich mit einer einzigen Notiz einen ganzen Bezirk. Das ist der Unterschied zwischen Geist und Gewalt. Er kann töten! Du willst ja nur Wissen ins Volk tragen, damit es vorwärts komme auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, damit es seine Kultur weiterentwickle im edlen Wettstreit der Geister aller Nationen. Was ist das schon?! Du willst das L e b e n fördern. Weil du nicht morden willst bist du nichts. Niemand übersehe das. Es i s t etwas, dass du nichts bist. Und das ist mehr als nur „etwas“. Das ist das, was die Welt von morgen braucht: Menschen mit Gesittung, die der Gewalt aus dem Wege gehen, weil sie die Gewalt hassen.

In diesem Sinne, mein Lieber, alles Gute und viel Kriegsglück. Herzlichste Grüße.

 

Trautenau, den 24. 3. 1945

Lieber Kurt!

Ich falte bei:
3000 g Brot (blaue Karte)
700 g „ (rote Karte)
500 g Wurst (rote Karte)
125 g Margarine (rote Karte)
Möge ein gütiges Schicksal diese Marken auch tatsächlich in Deine Hände gelangen lassen. Hast Du jene Anzahl von Marken erhalten, von denen ich öfters schrieb?
Gestern schrieb ich Dir, dass ich Deinen letzten Brief heute beantworten will. Leider ging es nicht. Ich will morgen (Sonntag) mein Versprechen einlösen.
Um 11 Uhr 23 werde ich zur Margit fahren, falls ein heute eventuell daheim liegender Befehl des Volkssturms mir dies nicht über den Haufen wirft.
Gestern Abend war der Volkssturm Jungbuch zu einem Vortrag beordert „Wofür kämpfen wir“. Der Vortrag war mit Lichtbildern aus aller Welt untermalt. USA, UdSSR, Britisches Empire, Europa usw. Wir kämpfen gegen alles Schlechte in dieser Welt, gegen Marxismus, Judentum und Plutokratie. Das war der Kern der Ausführungen. Wir kämpfen für die Idee des Führers. Er ist das Volk, das Reich und sein Wirken ist unser Wille Wir Sudetendeutschen gelobten 1938 ihm zu folgen, wohin immer er uns führen werde. Unser Dank ist unsere Traue. Wir sagten damals: „Wir danken unserem Führer“ und heute ist die Stunde gekommen, für unsere Befreiung zu danken durch den Einsatz unseres Lebens für des Führers und damit für des deutschen Volkes Ziel.
Herr Baumeister Foschi erhielt heute das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse. Wir hatten diesbezüglich einen Appell. Vertreten waren für unsere Reichenberger Zentrale Herr Hackel, für die DAF (Deutsche Arbeitsfront) Kamerad Kühnel und für die Gefolgschaft die Angestellten.
Muss zum Zug, War nicht im Kino, um 11 Uhr war alles ausverkauft. Es läuft noch immer der Marikka-Rökk-Film „Die Frau meiner Träume“. Bleib gesund. Alles Kriegsglück sei mit Dir. Es grüßt Dich herzlichst.

 

Trautenau, den 25. 3. 1945

Lieber Kurt!

Ich kam heute früh zu Fuß ins Büro, weil der Zug erst um 8 Uhr 46 von Trübenwasser abfährt und regelmäßig eine derartige Verspätung hat, dass ich erst gegen 11 Uhr ins Büro käme. So bin ich doch punkt 8 Uhr hier.
Wir haben seit fünf Tagen herrliches Wetter. Kein Wölkchen am Himmel. Die Sonne frisst den Schnee mit der Endmärzkraft, sodass sich der Wasserspiegel der Aupa und ihrer Nebenbäche etwas gehoben hat. Verglichen mit anderen Jahren ist die Schneeschicht im Gebirge verhältnismäßig niedrig, sodass der Grundwasserstand sinken wird. Wenn es nicht ausgiebig regnet, bedeutet dies eine Gefahr für den natürlichen Wasserhaushalt unserer Felder und Wiesen. Und gerade heuer kommt es darauf an, keinem trockenen Frühjahr oder Sommer ausgeliefert zu sein, weil sonst der Hunger aber buchstäblich bei allen Familien Einzug halten würde.
Wenn man von Trübenwasser die sechs Kilometer hereinmarschiert und sich neben der Aupa hält, um nichts von dem kriegerischen Getriebe der Hauptstraße zu sehen, wenn man den herrlichen blauen Himmel über sich sieht, den jubilierenden Gesang der Vögel hört, wenn man die Stille der Natur dem Getöse der Motoren oder dem Waffenlärm unseres früh ausgerückten Volkssturms gegenüberstellt, kommt einem der ungeheuerliche Unterschied zwischen dem Schönen und dem Hässlichen zum Bewusstsein. Die finsteren Mienen der Volkssturmmänner künden von verhaltenem Grollen eines aufziehenden Gewitters. Es kommen die Osterfeiertage aber nichts ist zu erkennen, was den Menschen friedlich stimmen könnte. Er muss, will er auf andere Gedanken kommen, hinaus ins Freie, in Gottes freie Natur, in die Haine und Wälder, hinaus auf Wiesen und Feldraine, um sich einer besseren Welt zuwenden zu können. Es ist zu erwarten, dass diese Ostern zu großen Manifestationen für den Frieden gestaltet werden. Um die Männer davon abzuhalten, hat – wie mir der Kollege Gotsche sagte – der Gauleiter für den heutigen Sonntag, den Ostersonntag, den Ostermontag und den folgenden Sonntag, also vier Tage zu je zehn Stunden, Dienst angeordnet. Du kannst Dir denken, welche Stimmung das erzeugt. An diesen Sonntagen soll an den Panzersperren geübt werden, und zwar soll deren Schließung geübt werden, was heißt, dass Baumstämme herbeizuschleppen sind und an schweren Betonringen die Muskeln trainiert werden können.
In dem Wirrwarr der Meinungen habe ich keinen leichten Stand. Ich spüre sofort, wenn man mich zu provozieren versucht. Vor einigen Tagen hatte ich eine „Salzdebatte“ mit Herrn Mann, der hier vom Hilfsarbeiter zum kaufmännischen Angestellten umgeschult werden soll. Er werde immer zuerst die Interessen des Staates und erst dann die des Betriebes vertreten, äußerte er während der Diskussion. Ich erwiderte, wenn er so weiter mache, werde man ihm kein Wort mehr über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen wir Männer aus der Privatwirtschaft zu kämpfen hätten, sagen können, weil man Angst haben müsse, angezeigt zu werden. Es sei zu befürchten, dass er sich noch zu einem Betriebsspitzel entwickeln werde. Damit hatte ich in ein Wespennest gestochen, so als fühlte sich der junge Mann entlarvt. Er beschwerte sich dann einen Stock tiefer, worauf ihm Herr Ingenieur Dressler den Auftrag gab, mich sofort der Geheimen Staatspolizei auszuliefern. Mann hat es sich aber überlegt, diesen Schritt zu tun. Du siehst, dass ich es nicht leicht habe. Wie ich die in der Werkküche zu Verpflegenden satt mache, überlässt man meiner Sorge.
Du schreibst von Deinem Appetit. Mein lieber Junge, wie gerne hülfe ich und kann es leider nicht. Ich will nur hoffen, dass Du meinen gestrigen Brief erhältst. Am Mai soll hier eine radikale Neuerung im Kartensystem erfolgen. Wir alle sind in großer Sorge um die Versorgung in der Zukunft. Wenn man aber sagt, es reiche nicht, wird dir geantwortet, du hättest kein Recht, es zu sagen, denn jeder habe ausreichend zu essen. Lache nicht, mein Sohn. Ich war Ohrenzeuge, als ein Volkssturmmann klagte, er könne den anstrengenden Dienst der unzureichenden Ernährung wegen nicht mitmachen. Der Bataillonschef hat ihm etwas erzählt, was ich niemals vergessen werde. Wenn ich nur wüsste, ob Du Marken erhalten würdest, dann ginge ich schnorren, um Dir etwas schicken zu können.
In der letzten Zeit mehren sich Erkrankungen des Magens und des Darms. Man sagt, es käme vom Brot, dem allerhand beigemischt ist. Ich selbst hatte einen garstigen Ausschlag und musste eine Darmkur machen, um den Körper „durchzuwaschen“. Der Arzt (Dr. Janetschek) sagte, ich hätte es von irgendeinem chemischen Gewürz. Das ist bestimmt so, weil ich alles, was ich der Werkküche zuleite, erst an mir selber ausprobiere. Diese Probe fiel aber elend aus.
Du schreibst ferner von „wüsten Debatten“. Was denn, mein Junge . . . ? Was debattiert ihr Studenten und Jungarbeiter denn? Dinge des Tages? Habt Ihr alle so gut Geschichte gelernt, um Vergleiche mit dem Heute anstellen zu können? Wie tüchtig von Euch. Es lebt also noch der feurige Geist der studentischen Jugend, die einst die Lokomotive aller Revolutionen war und es geblieben ist bis auf den heutigen Tag.
Wenn Du nur schon heraus wärst aus all dem Dreck! Wenn doch schon endliche der Endschlag fallen würde, dessen Echo „Friede!“ heißt. Lange kann es nicht mehr dauern, das fühlen wir alle.
Eben höre ich „ … mit Teilen im Anflug auf Magdeburg – Dessau …“ Also schon wieder. 10 Uhr 1. Die Nachrichten künden nichts Gutes. Die Anglo-Amerikaner über den Rhein gesetzt, bei Leobschütz und Neiße in Oberschlesien starker sowjetischer Druck, russischer Angriff in Ungarn westlich Budapest, in der Slowakei langsamer Rückzug usw. usf. „Wenn wir schon sterben müssen, dann für Deutschland und unseren geliebten Führer . . .“ spricht es aus dem Radio (10 Uhr 6). Gibt s keinen anderen Ausweg als nur sterben? Wir wollen leben! Leben für Deutschlands Zukunft!! Was haben wir schon noch zu erwarten? Druck gegen die mährische Pforte, das heißt gegen Ostrau, um von Nordosten nach Wien zu gelangen, bei Küstrin Vorarbeiten gegen Berlin, bei Stettin ein Vorspiel, um Berlin von Nordost zu fassen, der mittlere Teil der Armee Konjew wird bestimmt aus der mährischen Pforte nicht nur nach Wien, sondern auch gegen Prag stoßen. Und im Westen ist wohl das Endringen zu erwarten.
„Neue Maßnahmen, die wir getroffen haben, gehen radikal aufs Ganze…“, sagt eben der Sprecher, der den letzten Goebbelsartikel aus dem „Reich“ verliest. Wann kommen diese zum „Tragen“, wie man so zu sagen pflegt? „Zur gegebenen Zeit wird der Feind sie verspüren …“, höre ich weiter. „Unsere Siegeschancen sind unsere starken Herzen…“, „jeder lege sein Herz in seine beiden Hände und stelle sich auf den Platz, auf den ihn die Pflicht gestellt…“. So Dr. Goebbels. – – –

Bleib gesund. Alles Kriegsglück sei mit Dir.

 

Trautenau, den 27. 3. 1945

Lieber Kurt!

Als ich vorgestern von Bausnitz kam, fand ich Deine zwischen dem 11. 3. und 18. 3. geschriebenen Zeilen vor, über die ich mich sehr freute.
Auf den Inhalt kann ich leider mangels Zeit nicht eingehen. Vielleicht später einmal. Ich sammle Deine Briefe. Du sollst diese später einmal in Ruhe nachlesen können. Meine an Dich gerichteten Zeilen sollst Du nicht aufheben, denn sie liegen im Durchschlag vor. Ich hoffe, dass kein Bombenfeuer sie einmal frisst, denn dann würden Deine Zeilen mit verloren gehen.
Als ich Sonntag zur Margit kam, fing der Wald beim Tunnel zu brennen an. Funkenflug. Sehr starker Wind. Von der Sonne alles ausgetrocknet. Nach 14 Uhr war der Schaden behoben.
Traf Frau Träger. Hat von Ossi schon viele Wochen keine Post. Erhältst Du Nachrichten aus Kassel? Frau T. ist sehr besorgt. Tomm Erich ist Leutnant geworden. Sein oberschlesisches Mädchen ist jetzt bei Familie Tomm. Der Vater und zwei weitere Töchter seit Evakuierung Oberschlesiens in Jungbuch.
Wetter seit heute trüb aber warm. Sorgen uns um Dich sehr wie auch um die Ernährung in den kommenden Wochen. Weitere Erschießungen hier wegen Fahnenflucht, aber nicht mehr öffentlich.
Dein Freund Herbert (Petzak) seit Monaten vermisst. Ein von Dir im Sommer des Vorjahres an ihn gerichteter Brief kam zurück. Ich riet Mama, Dir den Brief zuzuleiten. Bürgermeister Fabich (Trautenau) zur Wehrmacht eingezogen. Derzeit Bürgermeister Dr. Kellner. Rechtsanwalt aus Trautenau, vertrat immer die Industrie. SS-Führer. Im Rathaus scharfer Wind. Im Büro Kriegsendeluft. Nutzlose Debatten. In Trautenau seit gestern OKW-Feldkommando. Ich bin sehr müde, jeden Abend erhebliche Rückenschmerzen. Überanstrengung.

Für heute schließe ich, wünsche Dir alles Gute, viel Kriegsglück und grüße Dich herzlichst! Dein Vater.

 

Berlin, 28. 3. 1945

Lieber Vater!

Ich komme aus dem Staunen gar nicht heraus. Acht Briefe von Dir in zwei Tagen. Sieben davon kamen an einem Tag. Heute erhielt ich Deinen Brief vom 23. 3. 45. Ich wundere mich, dass es so schnell ging. Und ich wundere mich über die Neuigkeiten, die Du zu berichten wusstest.
Industriespionage? Nichterfüllung des Volkssturm-Dienstes? Was sind das für seltsame Dinge. Welchem geistreichen Hirn entsprangen solche Mätzchen? Darüber zu debattieren erübrigt sich wohl. Dazu wird später einmal Zeit und Gelegenheit sein. Ich glaube, dass dann viele Leute plötzlich anderer Meinung sein werden. Na, warten wir ab.
Du bist also Schreibkraft beim Volkssturm. Interessant. Auf jeden Fall wohl ein ruhiger Posten. Dass Deine Feder bekannt ist, kann ich mir denken. Ich würde mich freuen, bald einmal Dein Signum unter einem Artikel zu finden. Kommt Zeit, kommt Rat. Wir verfolgen mit wachen Sinnen den Wehrmachtsbericht. Darmstadt, Aschaffenburg usw. Geht ja lustig zu! Anscheinend wird Deine Prophezeiung vom Monat Mai noch wahr.
Es ist gleich 22 Uhr. Seltsam, es war heute Abend noch kein Alarm. Na, da kommt er in der Früh gegen 4 Uhr. Unangenehm. Morgen Nacht ziehen wir wieder auf Funkübung. Drei Tage!
Zu Ostern geht der Dienst weiter wie sonst. Ohne Pause immer weiter im selben Trott. Heute Abend gab es ein Drittel Brot als Zusatz. Endlich wieder einmal. Es ist nicht schön, wenn man dauernd Kohldampf schieben muss. Ich freue mich nicht mehr von Sonntag zu Sonntag, sondern von einem Mittwoch zum andern. Da bekommen wir nämlich Jugendlichen-Zusatz. Heute ist Gründonnerstag. Nur zu gut kann ich mich daran erinnern, wie wir an diesem Tag leckere Honigsemmeln aßen. Wie wir uns als Kinder auf Ostern freuten. Wie ich mit Margit noch im Nachthemd frühmorgens bei uns auf der Wiese das Osternest suchen ging und dann glückstrahlend mit dem Gefundenen zurückkehrte.
Ja, das war einmal. Heute ist alles anders. Wo fällt die Entscheidung? In vier Wochen wissen wir bestimmt mehr. Bis dahin alles Gute.

Herzliche Grüße! Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 29. 3. 1945

Lieber Kurt!

Nun liegen die neuen ab 9. 4. gültigen Lebensmittelkarten vor. 200g Fett je 5 g und 1500 g Brot je 50 g sind für drei Wochen ausgewiesen. Dann sind 60 Kleinabschnitte mit Nummern von 1 – 60. Auf diese erhalten wird (inklusive der bereits erwähnten Abschnitte) 1700 g Brot, 250 g Fleisch, 125 g Fett je Woche. Ferner 225 g Nährmittel für drei Wochen, Zucker oder Marmelade 125 g je Woche, Käse 62,5 g für drei Wochen (lache nicht!), 125 g Quark für drei Wochen; Kinder bekommen zusätzlich für drei Wochen 250 g Stärkemehl und bis sechs Jahren 125 g Kunsthonig für drei Wochen. – Kommentar überflüssig.
In der 75. Zuteilungsperiode sollen die Karten nur Brot enthalten. Das Volk soll in Kriegsküchen verpflegt werden. Wird aber nicht gehen, meine ich. Im Kreis Hohenelbe werden an alle Bevölkerungsschichten Gasmasken verteilt. Im Trautenauer Bereich rührt sich diesbezüglich nichts. Wie ich höre, hat der Kreisleiter für den Fall der Evakuierung die startbereiten Autos sicherstellen lassen. Nicht startbereite müssen sofort repariert werden, sofern der zu behebende Schaden nicht zu groß ist.
Der gestrige „Bericht zur Lage“, durchgegeben nach den 14-Uhr-Nachrichten, sprach von der in wenigen Wochen fallenden Entscheidung. Man erzählt sich, dass wir Pressluft-Waffen anwenden werden. Das hieße, die Gegner zur Anwendung von Gas herausfordern. Und das wäre in der Tat das Ende. Das Volk hat doch in seiner Masse gar keine Gasmasken und außerdem vertraue ich mich dieser nur in gewissen Fällen an. Unser Gebirge ist ab 1000 Meter gesperrt. Verteidigungs- eventuelle Ausfallstellung für kommende Aktionen. Ich hoffe, dass Du Gelegenheit hast, Zeitungen zu lesen und die Nachrichten zu hören. Höre gut zu. Manche Formulierungen umschreiben die tatsächliche Lage. Ich hoffe, dass Du nach wie vor lebhaft interessiert und nicht stur bist.
Der OKW-Bericht zwingt uns, Geographie zu studieren. Wir alten Knaben sind österreichisch-ungarische Ortsnamen gewöhnt und müssen uns im Altreich erst im Detail orientieren. Ich würde Dir gerne ausführlicher schreiben, aber die Umstände, unter denen ich überhaupt meine Briefe an Dich abfasse, sind vergleichbar mit der Situation eines von Polizei gejagten Verbrechers. Mir ist, als raste ich mit der Maschine durch die Luft und schriebe, indes der Teufel hinter mir her reitet. Man kann keinen richtigen Gedanken fassen. So ist man gehetzt. Du erinnerst Dich der Tage Deiner Besuche bei mir und meines Tempos. Das war damals aber eine gemütliche Zeit. Heute, da die Front hinter dem Gebirge steht, wird stündlich auf den Schrei „Räumen!“ warten und gar nicht daran denken zu packen, werden unsere Nerven in einer sinnlos zerstörenden Art missbraucht.
Wer sagt, dass er bleiben will, wird als Feind bezeichnet, der den Russen Vorschub leisten will. Der Volkssturm hat Befehl, kurzen Prozess zu machen mit all jenen, die sich seinen Befehlen nicht unverzüglich beugen. Der verständige Volkssturmmann will die Auflösung des Volkssturms und seine Unterordnung unter die Wehrmacht. Ich gehe täglich mit erheblichen Rückenschmerzen heim. Aber der Irrsinn nimmt kein Ende. Ich bin kein Pg. (Parteigenosse) und muss daher die Arbeit für die „guten Deutschen“, die es besser haben, erledigen.
Ortsleiter Thamm (Bausnitz) hat es Frau Spiske durch einen Vermerk „ehemalige Marxistin“ auf einem Formular unmöglich gemacht, ihren schwer verwundeten Mann in Prag zu besuchen. Dabei hat Adolf Hitler 1938/39 eine allgemein gültige Amnestie erlassen, die es den ehemaligen Marxisten ermöglichen sollte, sich im Dritten Reich nicht fremd zu fühlen. Aber man vergisst so viel, was einst gesagt wurde. Es wird Augenblickspolitik gemacht, und jeder Blockleiter will sein eigener Adolf Hitler sein. Es gibt keine Autorität mehr. –

Ich hoffe, dass Dich meine heutigen Zeilen in Berlin erreichen, wünsche Dir alles Gute und grüße Dich herzlichst.

 

Stahnsdorf, 30. 3. 1945

Lieber Vater!

An die Decke hätte ich vor Freude springen wollen. Aber die war doch zu hoch. Ein schöneres Ostergeschenk hätte ich mir nie wünschen können. Aber weißt Du denn überhaupt, worum es sich handelt? Um die Marken, die Du mir am 24. 3. geschickt hast. Heute habe ich sie bekommen. Wie ein Fürst kann ich nun leben. 3700 g Brot. Unvorstellbar! Die Hauptsache ist ja das Brot. Die Wurst, ach, die wird noch besser schmecken. Auf die Margarinekarten kann ich oft noch im Gasthaus essen. Also, ich bin der gemachte Mann. Recht, recht herzlichen Dank für dieses unbezahlbare Geschenk. Ich weiß nicht, wie ich Dir das vergelten soll, Du wirst selbst mit allem mehr als knapp reichen. Das Gute ist ja, dass unser Kommissbrot noch recht gut schmeckt. Besonders wenn es etwas abgelegen ist. Dafür sind die Kartoffeln zu Mittag unter aller Sau. Brrr . . .
Doch nun zu Deinem Brief. Da war also bei Euch so herrliches Wetter. Auch hier schien die Sonne schon recht sommerlich. Nun ist es allerdings wieder vorbei. Heute hat es geregnet. Aber es grünt mit aller Gewalt. Der Frühling naht mit Brausen – – –
Mir gibt das neu erwachende Leben der Natur immer wieder frischen Mut und neue Kraft. Allerdings wäre es tausendmal schöner, diesen Frühling daheim zu erleben aber das ist nun mal nicht zu ändern. Ich tröste mich immer damit: daheim scheint dieselbe Sonne und derselbe Mond, und wenn ich abends zum Himmel sehe, dann leuchten Euch dieselben Sterne wie mir. Ist das nicht wunderbar! Manchen Menschen kommt das lächerlich vor, mir nicht.
Die „wüsten Debatten“ werden heute noch heißer geführt. Die Lage im Westen gibt genug Veranlassung dazu. Gestern Abend hätten wir uns fast gekeilt. Es verlief dann am Ende doch glimpflich. Die Macht der Worte meines Freundes Bobbi hat den Streit geschlichtet. Trotzdem gibt es noch zwei Parteien . . .
Wir lernen fest Englisch, mit dem nötigen Ernst, den man dazu braucht.
Die Russen haben die österreichische Grenze erreicht. Die Amerikaner sind im Vorfeld von Kassel. Wo wird Ossi sein? Frau Träger wird eine Sorge mehr haben.

So, das war wieder einmal alles. Alles Gute und viel Glück. Dein Sohn Kurt

 

Berlin, Ostersonntag 1945

Lieber Vater!

Recht herzliche Ostergrüße. Wir haben heute nach langen Wochen nachmittags frei. Meine Beschäftigung siehst Du beiliegend. Hoffentlich gefallen Dir die kleinen Arbeiten. (Gemeint sind einige Karikaturen).

Dein Sohn Kurt.

 

Trautenau, den 1. April 1945

Lieber Kurt!

Es geschehen noch Wunder: Dein Brief vom 18. Feber, aufgegeben am 19. 2. in Stahnsdorf, langte heute früh ein. Ich danke für Deine freundlichen Zeilen, mit welchen ich endlich bestätigt erhalte, dass Du die Marken erhalten hast. (Die ersten nämlich). Hoffentlich hast Du die zweiten auch schon.
Dein Brief vom 18. 2. offenbart eine starke depressive Stimmung Kommt mal vor, aber man muss sich zusammenreißen. Nachher ärgert man sich, dass andere die Gelegenheit hatten, den Wert oder Unwert unserer Nerven kennen zu lernen. Ich habe einen festen Vorsatz: Zähne zusammenbeißen und unterdrücken, was einem später einmal zum Schaden gereichen könnte. Wenn Du schikaniert wirst, dann gehe auf das Spiel ein und mache den Menschenquälern die Arbeit nicht leicht durch Aufbrausen, sich Hinreißenlassen etc. Tätest Du Letzteres, haben sie Dich im Sack und wissen, wo sie Dich beim nächsten Mal wieder kitzeln können. Vergesse niemals, dass unter der heutigen Menschheit viele Sadisten sind, die sich an der Quälerei der anderen begeilen. Schweigen sei Deine beste Gegenwaffe und scheinbares Eingehen auf ihre unmenschlichen Wünsche. Abwarten, bis die Umstände Deine Bundesgenossen werden, dann zuschlagen. Augenblicklich bist Du der Schwächere und einem Naturgesetz zufolge würdest Du zweifellos unterliegen, wenn Du Dich zu einer „Protestaktion“ hinreißen ließest. Mir schriebst Du einmal, wir sollen uns nicht provozieren lassen. Beachte dies auch für Dich.
Die Zeit wird immer wirrer. Darum heißt es wie noch nie: Ruhe bewahren! Ein Ziel sehen: das Ende des Krieges und die Notwendigkeit, heil herauszukommen. Nichts voreilig tun. Keine Einzelaktion unternehmen. Immer die Kameraden im Auge behalten: einer für alle, alle für einen. Eure Heimat braucht Euch. Wiederaufbau. Die deutsche Nation ist ausgeblutet. Sie braucht die Jugend, um ihrer Zukunft willen.
Ich nehme an, dass Du den OKW-Bericht mit größtem Interesse verfolgst. Die Lage im Westen ist verworren. Wir vermuten hier in kürzester Zeit einen Stoß gegen Münster (Nordwest), Kassel und Würzburg. Vermutlich will der Tommi mit dem Yankee gegen Nürnberg, um dann donauabwärts gegen Linz zu marschieren, (wo er hofft, seine russischen Verbündeten, die aus Ungarn die österreichische Grenze erreicht haben und bestimmt gegen Wiener-Neustadt und Wien drücken werden), „erleben“ zu können. Die Sowjets drücken gegen Ostrau unermüdlich weiter und strengt sich auch an, Pressburg zu erreichen. Die Front im Osten stände dann Stettin – Wien – Graz – Triest. Hier wird die Lage lebhaft diskutiert. Es fehlt nicht an offiziellen „Warnungen“. „Der Kopf sitzt locker heutzutage bei den Feinden des Reiches“ heißt es. Man meint die „inneren Feinde“. Es ist halt nicht jedem wurst, wenn es keine Kohle, keinen Sprit und wenig zu essen gibt. Von überall her hört man sagen „Ich habe Hunger“. Wir Europäer sind halt gefräßige Leute, sagen die Lateinamerikaner zum Beispiel. Und wer ist schuld: der Jud’! Nur schade, dass nur die Armen da sind, die Reichen sind ja fort, wie das allgemein so Weltsitte in kritischen Zeiten ist.
Es ziehen Trecks wieder zurück nach Osten: anbauen. Richtung Waldenburg und Umgebung. Der Russe drückt ja von Ratibor gegen Süden und nicht nach Westen. Trotzdem werden hier vom Kreisleiter Flugzettel verbreitet: Vorbereiten für die Evakuierung. Wir glauben, es handelt sich nur um eine vorbeugende Maßnahme. Die Tommis werfen auch Flugzettel in Massen. Gestern war eine Luftschlacht über dem Raum Trautenau – Jungbuch. Ein Tommi abgeschossen, stürzte aber erst hinter dem Gebirge ab in Richtung Hirschberg.
Man merkt nichts von österlichen Freuden. Aus allen Ecken schießt es. Großübung des Volkssturms. Morgen Abschlusskampf im Raum Trautenau – Schatzlar – Königshan im Beisein hoher Offiziere, SA-Führer, Kreisleiter usw. Wir haben jetzt auch einen General hier. OKW-Feldkommando. Geschanzt wird auf „Teufel komm’ raus!“ Wenn man sich an die Schanzbilder aus Ostpreußen erinnert, die uns die Wochenschau zeigte, und die Unsumme Arbeit mit dem Endeffekt vergleicht, könnte einem die Lust zu allem vergehen. Gestern brachten unsere Zeitungen eine „Verlustbilanz der Sowjets in Ostpreußen“. Allerhand, was die verloren haben. Aber was wir verloren haben, sagt uns kein Mensch. Eines aber wissen wir: dass wir Ostpreußen bei diesem Kampf verloren haben und Westpreußen dazu.
Trotz alledem: es wird weiter geschanzt. Wenn auch Du schanzen musst, wär’s besser hier als in Teltow. Die Welt ist eben verrückt und jeder steht dort, wo er nicht stehen sollte.
Im großen Ganzen ist hier nichts los. Man diskutiert die Ziffern auf den Lebensmittelkarten und sieht besorgt in die Zukunft. Aber im Grunde muckst keiner dort auf, wo es ihn den Kopf kosten könnte. Jeder will eben irgendwie leben, dies umso mehr, als er sich sagt, es geht ja ohnedies mit Riesenschritten dem Sieg entgegen.
Du siehst keinen Ausweg? Bleib ruhig, mein Sohn. Immer nur ruhig bleiben. Der Ausweg ist da. Nur musst Du Dich noch ein Weilchen gedulden. Nicht nervös werden. Wartet die Befehle Eurer Offiziere ab. Jeder gewissenhafte Offizier wird jedes unnütze Opfer zu vermeiden trachten, wenn er sieht, dass die Lage dies gebietet. Es geht ums deutsche Volk, so oder so. Also heißt es, Nerven behalten. Wir retten Deutschland, das Deutschland Friedrich Schillers und Johann Wolfgang Goethes nicht, indem wir Chaos erzeugen, sondern indem wir ruhig bleiben. Allen muss gemeinsam sein das Ziel: zu verhüten, dass Deutschland abgleitet in chaotische Zustände. Auf keinen Fall den Bürgerkrieg zulassen. Ruhe, immer Ruhe fordern und mit der eigenen Ruhe als Beispiel vorangehen.
Bald ist alles vorüber, und zwar noch diesen Frühsommer. Bewahrt Eure Kraft für Deutschlands Zukunft. Es wird Euch brauchen, nötiger als je zuvor.

In diesem Sinne, mein lieber Junge, alles Gute. Recht viel Kriegsglück und herzliche Grüße.

 

Trautenau, den 5. 4. 1945

Lieber Kurt!

Deine zwischen dem 19. und 24. 3. geschriebenen und am gleichen Tag zur Post gegebenen Zeilen habe ich erhalten. Die Post Berlin – Trautenau ging bis Sonntagabend. Und danke für Dein Lebenszeichen und freue mich dessen. Weniger erbaut bin ich von der wieder „einmaligen“ Versetzung nach „Werweißwohin“. Brauchst Du Briefumschläge? Schreibpapier?
Am Ostersonntag war ich in Bausnitz. Margit erhielt nicht frei, weil sie den Sonntag vorher frei hatte. Aber knapp zwei Stunden waren wir doch beisammen. Mit Mama gabs eine Zigarettendebatte, weil sie wieder einmal nicht weiß, woher welche zu nehmen. Ich sagte ihr, sie möge sich beherrschen lernen. Aber da habe ich etwas Falsches geäußert. Klar ist, dass sie leidenschaftlich raucht und die Angehörigen darunter leiden. Solltest Du die Absicht haben, Tabak zu schicken, so lass Dir raten: er langt nie an. Die Post weiß, was Tabak wert ist. 10 Stück = ein Kilo böhmisches Weizenmehl von blendender Weiße. Ich hatte fünf Kilo ergattert. Ich gab’s Mama für Margit.
Zu Ostern dachten wir wehmütig an Dich und aßen mit Herzweh. Wir hoffen, dass Du bald heimkommst. Deshalb hob ich 50 g Zigarettentabak auf, um ihn umzutauschen, damit Du weißen Kuchen erhältst.
Lange kann das blutige Theater nicht mehr dauern und dann wollen wir wieder mit Vernunft ans Tagewerk gehen. Zurzeit kleben hier Plakate „Soldaten – Volkssturmmänner, haltet aus, der Gegenschlag kommt“. Ich gebe dem „Schauspiel“ noch eine Länge von sechs bis acht Wochen. Im Westen der „Werwolf“ in Aktion. Uns schaudert hier, weil das der Beginn des Bürgerkrieges ist. Der Name sagt schon, was der Werwolf will: Blut, weil er blutdürstig der Sage nach ist.
Der kritischste Augenblick bei einer Geburt ist der Akt der Entbindung. Ihn durchleben wir jetzt in Europa.
Eben hört ich um 14 Uhr im OKW-Bericht: südöstlich der Mur . . . Das heißt, dass die Russen um Graz herum sein müssen. In Würzburg Gegner eingedrungen, also 150 km vor Eger, usw. usf. Was soll man noch sagen? „Der Gegenschlag“ kommt. Ich bin nur neugierig, wer an dem allen schuld ist. Der Jud ist tot in Deutschland, die Marxisten ausgeschaltet weil im KZ. Was zum Teufel tut sich im Reich?
In Bausnitz hörte ich, dass Patzak Gustl vermisst sein soll. Es ist nicht amtlich, sondern nur per Post mitgeteilt worden. Vielleicht gefangen.
Herr Ingenieur Stolička kam mit seiner OT-Kompanie aus dem Westen. Von unseren 80 Mann sind zwei tot, elf verwundet, 42 gefangen bzw. vermisst und 25 glücklich in Trautenau gelandet, wohin sie vom OT-Kommandeur Bayreuth gesandt wurden. Die „glückliche“ Heimkehr zwang uns, den 25 Leuten sofort einen Urlaub zur Erlangung der Einsatzfähigkeit bis 10. d. M. zu geben. Schön schaun wir aus, gelt? Von 80 retten wir 25. Seit Mitte Dezember waren sie im Westen. Gearbeitet haben sie fast nichts, weil fort unterwegs. Bezahlt mussten sie werden, was klar ist. Das nennt man Ökonomie des Krieges.

Wenn ich bloß wieder Nachricht von Dir hätte! Bleib gesund. Alles Kriegsglück sei mit Dir. Es grüßt Dich herzlichst

 

Trautenau, den 7. 4. 1945

Lieber Kurt!

Obwohl noch immer ohne Nachricht, sende ich Dir diese Zeilen in der festen Überzeugung, dass Du wohlauf bist.
Ich wartete diese Woche Tag um Tag auf einige Zeilen – leider vergeblich – von Dir. Wo steckst Du, was machst Du und wann kommst Du endlich heim?
Die Ereignisse verlaufen wie von mir vor Monaten skizziert. Der Griff der Russen nach dem Protektorat wird in der heutigen „Zeit“ erwähnt, die sagt, dass die Russen gegen Znaim stoßen wollen. Die Kleinen Karpathen sind durchstoßen worden, sodass vor den Sowjets nunmehr die flache mährische Ebene liegt, wie vor Montgomerys Truppen die norddeutsche Tiefebene. Die Angloamerikaner stoßen gegen Bremen, gegen Hannover, gegen Nürnberg, gegen Straßburg usw. „Der Gegenschlag kommt“!
Gestern langten in Jungbuch rund zweieinhalb Tausend Gasmasken an. Es fehlen aber noch zweimal soviel um zu genügen. Kommt der Gaskrieg als „Gegenschlag“? Das wäre das Ende.
Uns nimmt man Arbeitskräfte weg zum Anbau in der Waldenburger Gegend. Wir schanzen hier wie verrückt. Aber jeder sagt „Wozu?“ Jeder wünscht den Frieden. Vorgestern Abend gab der Rundfunk durch, wer alles zum Tode verurteilt wird: wer defaitistisch, feige usw. usw. ist, wer unverwundet in Gefangenschaft gerät, wer meckert, der ist dem Tod verfallen. Warum droht man denn immer dem Volke, das doch schuftet, um seine Pflicht zu erfüllen? Ist denn schon alles verrückt geworden? Na, wir wollen alle fünf Sinne beisammen halten und uns auf ein baldiges Wiedersehen freuen.
Alles Gute, alles Kriegsglück sei mit Dir! Es grüßt Dich herzlichst

 

Trautenau, den 10. 4. 1945

Lieber Kurt!

Gestern langten Deine lieben Zeilen vom 28. 3. ein, mit denen Du den Erhalt von acht Briefen, die ich Dir übersandt hatte, bestätigst. Heute erhielt ich Dein Jubilieren vom 30. 3. über den Eingang der Verpflegsmarken. Ich freue mich mit Dir und bin andererseits traurig, dass die Umstände, Dir fortlaufend helfen zu können, immer schwieriger werden. Nichtsdestoweniger werde ich mich sehr anstrengen, etwas „freizukämpfen“. Wie schwierig die Ernährungslage ist, möge folgendes Beispiel illustrieren:
Die Schanzarbeiter erhielten vor acht Wochen noch die Schwerarbeiterkarte bzw. Reisemarken im gleichen Wert. Die Schwerarbeiterkarten wurden kassiert und die Schanzer dafür mittags mit einer Suppe bedacht. Dagegen revoltierten sie. Um die Unzufriedenheit einzudämmen, bekamen sie zur Suppe ein Stückchen Brot, angeblich zehn Dekagramm. Kurzum, sie wurden auf schmalere Rationen gesetzt. In den Betrieben wurden die Langarbeiterkarten kassiert.
Ab nächster Zuteilungsperiode, das ist ab Anfang Mai, sollten weitere Kürzungen erfolgen. Dazu kommt, dass wir auf unseren Normalverbraucherkarten die verfl . . . . Nummern haben statt einer Warenbezeichnung. Wer da nicht scharf sich selbst rationiert, hat in der dritten Woche kein Brot mehr. Einfach zum Krach machen, das Ganze. Damit man aber kuscht, wird mit dem „Werwolf“ gedroht, für den sich unsere „Genossen“ so sehr begeistern. Also – die Russen wie alle anderen Völker haben wir in Grund und Boden verdammt, weil sie Partisanen aufstellten, und nun machen wir das Gleiche als Ehrensache. Da könnt’ man sich vor Wut in den Arsch beißen.
Du sprichst von den Ostern Deiner Kinderjahre. Wie schön. Wenn doch die Zeit bald wiederkäme, da es die Kinder gleich Euch tun könnten. In vier Wochen, meinst Du, wissen wir mehr. Bestimmt, mein Junge, ganz sicher!
Wenn ich nach Bausnitz gehe, ist mir immer, als ginge ich mit Dir, obwohl es Margit ist. Wir plaudern von Dir, Deiner Schulzeit und richten den innigsten Wunsch an die Allmacht der Welt, Du mögest bald und gesund nach Hause kommen, um wieder die Schultasche zu nehmen, Dein Studium zu beenden. Wir stellen uns vor, wie es sein wird, wenn sich wieder ein friedlicher Himmel über friedlichen Menschen wölbt und kein Fliegeralarm uns die Frage aufdrängt, wo der Tod wohl gerade seine Beute sucht.
Ab heute gelten alle Fahrräder als beschlagnahmt Alle sind zu melden. Ich werde Sonntag sehen, was Mama gemacht hat. Die Beschlagnahme ist ein modernes „Organisieren“. Bleiben wir höflich, trotz alledem!
Der heutige OKW-Bericht spricht von schweren Kämpfen im Stadtkern von Wien zwischen Ost- und Westbahnhof. Das heißt also, dass in kürzester Frist Wien fallen wird. Vorgestern Abend noch hörte ich aus Wien schöne alte Wiener Weisen. Es war der Schwanengesang des „Reichssenders Wien“. Graz schweigt auch. Seit gestern kommt Stuttgart nicht mehr herein, also ist auch dort der Teufel los. Warten wir also weiter ab, ob die „Werwölfe“ uns fressen werden. Möglich ist es. Kann sein, sie veranstalten eine Bartholomäusnacht, in der alle Verdächtigen ausgerottet werden. Man sagt: „Vor 12 Uhr Mitternacht werden wir kommen und 5 nach 12 haben wir den Sieg in der Tasche.“ Dunkle Drohungen das. Statt Haltung auch im Unglück zu zeigen.
Ich glaube fest, dass im kritischsten Augenblick besonnene Menschen das Volk zur Ruhe zwingen werden, auch wenn hysterische BDM-Mädchen und HJ-Buben die Maschinenpistole gegen die eigenen Volksgenossen richten sollten. (BDM – Bund Deutscher Mädchen; HJ – Hitler-Jugend)
Eines lasse Dir sagen: Du bis Handelsakademiker und hast Dich auch bei der Wehrmacht akademisch aufzuführen, das heißt also, sich nicht vom „Schnauzentum“ beeinflussen zu lassen. Bleibe immer sachlich, in jedem wie immer gearteten Fall. Beteilige Dich nicht an groben Auseinandersetzungen, schon gar nicht lasse Dich zu Tätlichkeiten hinreißen. Ein Denunziant – und einer von Euch wird wegen Undiszipliniertheit erschossen, wenn nicht mehrere, wie sich dies hier fallweise ereignet. Die Standgerichte sind ständig auf der Reise.

Für heute, mein lieber Junge, muss ich schließen. Ich wünsche Dir alles Gute, insbesondere recht viel Kriegsglück und grüße Dich aufs herzlichste.

 

Trautenau, den 12. 4. 1945

Lieber Kurt!

Lobe den deutschen Ordnungssinn und die deutsche Gründlichkeit, denn Deine Zeilen, geschrieben zwischen dem 15. und inclusive 20. 2., zur Post gegeben am 21. 2. langten gestern, am 11. 4. , hier ein. Postlaufzeit 50 Tage! Zum Ausgleich langte Dein Brief vom 3. 4., aufgegeben am 6. 4., ebenfalls gestern ein, was einer Laufzeit von sechs Tagen entspricht. (Dieser liegt nicht vor; der letzte vorhandene Brief von Kurt stammt vom Ostersonntag 1945).
Meine Freude über Dein Lebenszeichen war, wie immer, sehr groß.
Vorgestern übersandte ich Dir wiederum etwas Briefpapier und Kouverts. Ein Brief lag bei. Ich hoffe, dass Dich das Schreiben bald erreicht. Deine Zeilen bereiteten mir nicht nur Freude, die ich in väterlicher Liebe empfinde, sie wecken auch eine immer größere Achtung vor meinem Sohn, der für seine siebzehn Jahre immerhin Gedanken entwickelt, die eines etwas älteren Burschen würdig wären. Lerne! Lerne immerzu! Vergiss das Gelernte nie, sondern bringe es Dir immer wieder in Erinnerung und ergänze Dein Wissen, so gut Du nur kannst. Dass Du Sprachen studierst, freut mich besonders. Die größte aller Mächte ist das Wissen. Darum lautet immer meine Parole: „Wissen ins Volk!“. Gewisse Menschen wünschen nicht, dass das Volk von Wissen erfüllt ist. Je dümmer es ist, umso besser kann es ausgebeutet werden.
Mit Erbitterung lese ich von Deinem Hunger und Wut erfasst mich, weil ich Dir nicht wie ich gern möchte helfen kann. Wenn es so weiter geht, werdet Ihr noch bei den Bauern fechten (betteln) gehen wie unsere OT im Westen. So macht sich der Soldat verhasst. Tja, es mangelt halt an allen Seiten. Und was geschieht? Das fruchtbare Land wird weiter von Panzergräben durchzogen, von Panzern überwalzt, von Granaten zerwühlt, vermint, unter Wasser gesetzt, vergiftet, mit Menschenblut getränkt. Wann wird der Sämann wieder sorglos über seinen Acker schreiten, wann werden wieder lachende Kinder auf den Stoppelfeldern spielen und Schneeschuhläufer den Frieden einer verschneiten Landschaft atmen. Friede – welch’ heiliges Wort. Wie wurde es entweiht durch die Bestialitäten dieses Krieges und aller anderen. Wann wird die Menschheit so weit sein, kraft des Geistes zu entscheiden, wozu man heute das Schwert zieht.
Deine Sehnsucht nach einem Stückchen Kuchen ist die Sehnsucht nach Frieden. Ich will hoffen und wünsche es von Herzen, Dass man Euch ROB’s nicht den Panzern zwischen die Ketten wirft. Immer wieder liest man in PK-Berichten (PK = Propagandakompanie) und hört es im Rundfunk, was tapfere Heeresoffiziersschüler oder Fahnenjunker für Heldentaten vollbringen. Königsberg wurde übergeben, wofür der Kommandeur zum Tode durch den Strang verurteilt und seine Sippe h a f t b a r gemacht wurde. Uns schaudert. Dazu die Warnung an andere Kommandeure, dass ihnen Gleiches geschieht, wenn sie wie der Kommandant von Königsberg verfahren.
Alle Tage kann der Sturm auf Berlin beginnen. Wie lange wird es sich halten? Ist Wien nicht ein Symptom? Nach einer Woche sind die Russen praktisch durch. Und wie lange brauchten sie in Budapest, in Warschau? Man merkt, dass unsere Kraft schwindet. Kein Wunder. Wir haben uns verbraucht. Noch aber heißt es: Halten! Halten um j e d e n Preis! Wenige Wochen trennen uns von der Entscheidung. Die Arbeit leidet darunter. Es gibt Kollegen, die sich für die nächsten sechs Monate sicher setzen möchten, um das dramatische Ende, das heißt, den Sieg, nicht Aug’ in Auge erleben zu müssen.
Hoffst Du, in Berlin-Stahnsdorf bleiben zu können? Die Tommis rücken auf Magdeburg, gegen Nürnberg, sind zehn km vor Bremen, wollen gegen Hamburg, um die Nordsee in die Hand zu bekommen. Die heutige „Zeit“ erwähnt, dass bei Stettin und Küstrin russische Vorbereitungen für den Stoß gegen Berlin getroffen werden. Die Angloamerikaner am Westrand von Erfurt, vorbei an Schweinfurt, vorbei da und vorbei dort, vorbei, immer heißt es „vorbei“.
Na, bald ist es mit dem Krieg vorbei, dann können wir Bilanz machen und uns fragen, was wir mit dem Gewinn anfangen. Nach dem Sieg kommt der Friede, das ist gewiss. Das heißt, wenn der Werwolf ihn nicht stört. Vorderhand haben wir im Büro ein Mitglied: Rudolf Mann. Er ist fanatisch bis dorthinaus, und wird der Rächer sein im Namen der Partei, das heißt des deutschen Volkes. Hauser meinte, es fiele ihm nie ein, zu „werwolfen“. Er will seine Arbeit und seine Ruhe haben. Wir anderen sind der gleichen Meinung. Deutschland muss wieder Weltgeltung erlangen, und es wird sie erlangen, aber nicht durch den Werwolf, sondern durch deutschen Geist, der sich auf Goethe und Schiller, auf Kant und Fichte stützt, kurzum, der sich stützt auf die Erkenntnisse deutscher Wissenschaft, deutscher Organisationskunst, deutschen Fleiß und friedliche Ziele.
Der Versuch, das Rad der Zeit ins Mittelalter zurückzudrehen, ist missglückt.

Damit will ich schließen, mein lieber Junge. Sei herzlichst gegrüßt mit den besten Segenswünschen für die kommenden Tage. Heil Dir!

 

Trautenau, den 13. 4. 1945

Lieber Kurt!

Ich danke für den Nachweise Deiner „Freizeitgestaltung“, den Du am 1. 4. d. J. erbrachtest und am 3. 4. zur Post gabst. Er langte heute ein. Ich vermerke mit Interesse, dass Du nicht aus der Übung gekommen bist. Nur eines vermisse ich bei den Karikaturen: verbindende Worte a la Wilhelm Busch. Das Bild wird dann erst richtig sinnfällig. Zum Beispiel angewandt auf einige mir übersandte Arbeiten: Steht einer schon am Mikrofon, ist’s kein Beweis, ob gut der Ton, oder: Am Rednerpult Herr Monoton, das Publikum es schlummert schon, usw. usf. Die Worte unterstreichen den Witz der Zeichnung. Es gibt auch solche, die ohne Worte mächtig wirken; das kommt auf – wenn ich so sagen darf – den Wert der schöpferischen Leistung an. Mache weiter und verlerne nie, was als Gnade in Dir schlummert. Wecke es, jedoch halte den Feuergeist im Zaum. Du weißt, dass wir gewisse Freiheiten recht beschnitten erhielten.
An Neuem wäre zu sagen: Reichsdeutsche strömen aus Böhmen und Mähren heim; auch jene aus unserem Gau. Sie haben irgendeinen Wink von oben. Man erwartet (siehe meinen gestrigen Brief) eine Vereinigung der Russen mit den Angloamerikanern um Leipzig herum. Um nicht abgeschnitten zu sein, will man lieber heim. Diese Abschnürung würde auch Dich und mich schwer treffen, denn unsere Post könnte dann höchstens mit dem Flugzeug ihr Ziel erreichen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Kontakt aufrechterhalten können. Schaffe ein Netz von Kameraden, deren Anschrift Du uns mitteilst, damit wir Rückfrage nach Dir halten können, wenn die Verbindung zerreißen sollte.
Gestern war hier eine wichtige Versammlung. Hofhansel prophezeite absoluten Sieg. Mit Hilfe der Wlassow-Truppen. Wir sollen weit in Russland hinter den Fronten von Wlassow-Leuten vorbereitete Flugplätze haben, usw. sodass wir die Rote Armee von hinten fassen. Ich glaube, das sind propagandistische Mätzchen, da der gestrige Goebbels-Artikel in der „zeit“ ganz anders lautete als diese unernste Prophezeiung.
Die Yankees und Tommis sind an der Elbe, der Iwan an der Oder. Was kommt nun? Wie gestern gesagt, kriecht der Iwan ins Protektorat. Jede Nacht werden Fallschirmschützen abgesetzt. Der Volkssturm jagt jede Nacht und findet nichts.
Hier herrscht teils Jubel, teils nachdenkliches Betrachten der Lage nach dem plötzlichen Tod Roosevelts.
Die Menschen wissen nichts von den Industriegesetzen (NIRA und New Deal), die Roosevelt anstrebte. Es würde zu weit führen, wollte ich heute darauf eingehen. Die offizielle Propaganda hat es erreicht, dass er nicht minder als Stalin und Churchill gehasst wird. Darum das Lachen über seinen Tod, der keine politische Veränderung in Amerika oder der Welt nach sich ziehen wird. Der Krieg ist im Auslaufen, nicht im Anlaufen. Die Menschen greifen jede Hoffnung gierig auf, auch wenn sie so kurzlebig ist wie deren Gedächtnis.

Für heute muss ich leider schließen. Das Kriegsglück möge Dein steter Begleiter sein, alles Gute Dich nie verlassen. Es grüßt Dich herzlichst

 

Trautenau, den 15. 4. 1945

Lieber Kurt!

Bevor ich mit dem Zug nach Bausnitz fahre, will ich Dir noch ein paar Zeilen schreiben, von denen ich annehme, dass sie dich noch am alten Platz erreichen und vor allem bei bester Gesundheit.
Die Zeitungen schreiben – und der Rundfunk sagt es auch – dass in kürzester Zeit eine Offensive der Sowjets kommt. In den Kreis Trautenau strömen erneut Tausende Flüchtlinge. Ich glaube, geflüchtete Preußen aus Österreich. Heute standen Volkssturmmänner mit Gewehr und Panzerfaust bei öffentlichen Gebäuden Posten, zum Beispiel beim Rathaus, bei der Post, beim Landratsamt und anderswo. Es sah aus, als kämen schon die Russen. Von unserer Laube aus gesehen durchziehen die rechte Hälfte des Ringplatzes zehn Zentimeter breite weiße Streifen. Dort wird ein Teich angelegt, dessen Wasser ausreichen soll, bei einem Luftangriff entstandenes Feuer zu löschen. Ingenieure sagen, bevor der Teich fertig ist, ist der Krieg zu Ende. Wenn dem schon so wäre.
Anruf meines Chefs: „Sie haben einen Brief Ihres Sohne da.“ Hurra! Deine Zeilen vom 25. 3. bis 7. 4., zur Post gegeben am 9. 4. Besten Dank für Dein Lebenszeichen. Du bleibst also in Berlin. Na ja – was soll ich schon dazu sagen? Soll ich traurig, soll ich lustig sein?
In einer Woche wissen wir wieder mehr. Ich hoffe, dass Du zwar alle meine Briefe erhältst aber nicht aufhebst, weil ich Dir ja rege schreibe. Ich hoffe auch, dass Du gesund bleibst. Von Onkel Otto fehlt immer noch eine Nachricht aus der englischen Gefangenschaft.

Also mein lieber Junge, bleib’ gesund. Das Kriegsglück sei immer mit Dir. Es grüßt Dich aufs herzlichste Heil Dir!

 

Trautenau, den 17. 4. 1945

Lieber Kurt!

Ich schreibe Dir diese Zeilen unter dem Eindruck der Auslösung der neuen Sowjetoffensive an der Oder und der Nisse. Es geht um Berlin, das Nervenzentrum des Reiches. Wir lasen in den heutigen Zeitungen den Tagesbefehl des Führers, der anordnet, jeden umzulegen, der das Kommando „Halt!“ zu blasen die Absicht hätte. Praktisch bedeutet dies, dass der Soldat den Offizier „umzulegen“ hat, wenn er die weiße Fahne zu hissen sich erfrechen und verräterisch kapitulieren sollte. Du kannst Dir kaum denken, wie der Tagesbefehl auf das Volk wirkt, das ja trotz allem einen Unterschied zwischen sich und der Partei macht. Man wundert sich über nichts mehr, man ist gelähmt durch fassungsloses Staunen, was alles im Namen des Volkes angeordnet wird. Der Tagesbefehl sagt, dass Berlin deutsch bleibt, Wien wieder deutsch wird und Europa niemals russisch wird. Das ist klar. Deutsch bleibt was deutsch war. Was deutsch war, braucht nicht deutsch gemacht zu werden. Wir Sudetendeutschen waren schon immer wienerisch ausgerichtet und tendierten immer nach Wien, jenem Kulturzentrum Europas, das keine mindere Bedeutung hatte als Rom oder Paris. Wir werden uns niemals von Wien trennen, was auch immer versucht werden sollte, uns Wien fremd oder „undeutsch“ erscheinen zu lassen.
In der Stadt sind überall Parolen an die Wände gemalt worden, die zum Widerstand aufrufen. „Lieber tot als Sklav“, „Wer nicht mit uns – ist gegen uns“. (Hier fehlt die Fortsetzung: Wer gegen uns ist, muss weg!), „Sieg oder Sibirien!“ Die weiße Farbe ist ein guter Wegweiser in der Finsternis unserer wolkenverhangenen Nächte Es ist zu erwarten, dass man die letzten Aufgebote unserer Wehrkraft in die Endschlacht werfen wird. Wir bangen sehr um Dich. – Unsere Sorge ist sehr groß. Wir warten mit größter Sehnsucht auf ein Lebenszeichen von Dir. Im Grunde genommen bist Du nicht weit und doch unerreichbar fern. Das ist unsere Tragödie.
Schukow im schlesischen und Rokosowsky im Stettiner Raum werden auch alles aufbieten, um sich durchzusetzen. Der Führer sagt, die Sowjets werden im Berliner Blutbad ersaufen. Malinowsky stößt gegen Brünn, Tolbuchin gegen Linz, der fünfte russische Marschall, dessen Name mir gerade nicht einfällt, stößt gegen die Steiermark und Kärnten, um unseren in Mittelitalien kämpfenden Truppen den Weg in nordöstlicher Richtung abzuschneiden. Alexander, ein englischer Befehlshaber, versucht nun, einen Generalangriff in Italien zu forcieren. Patton stößt gegen Regensburg – Passau und im Westen sieht es so aus, als gäbe es keinen organisierten Widerstand mehr.
In der Tat, wie der Führer sagt: „Die historische Stunde ist da.“ Die Angloamerikaner haben die Gegend Asch – Eger erreicht und von Waldenburg drückt der Iwan gegen Braunau und Nachod, wobei wir auch zum Handkuss kämen. Wenn man sich die Karte ansieht, kommen einem allerhand Gedanken. Aber alle werden von einem einzigen großen Gedanken überschattet: wo ist unser Junge und wie kommt er heil aus dieser Sackgasse heraus. Der Opfer sind schon zu viele gebracht worden. Wie schauderhaft, wie grauenhaft!
Hier herrscht Nervosität, die durch allerhand blödsinnige Gerüchte erzeugt wird. Die Menschen täten besser, sich zu vertragen, als jetzt schon danach zu trachten, wie einer dem andern das Leben schwer machen könnte.
Wir hoffen, dass Du alles gut überstehst und aus dem ganzen Schlamassel heil herauskommst. Nicht allein, dass wir es hoffen, wir wünschen es aus tiefstem Herzen.
In diesem Sinne, mein lieber Junge, klare Sicht, helle Sinne, ein mutiges Herz, einen kühlen Verstand und praktische Vernunft. Das zusammen ergibt die notwendige Entschlusskraft. Wir wollen Dich gesund und bald wieder sehen, denn lange kann der Krieg ja doch nicht mehr dauern.

Wir wünschen Dir alles Gute, insbesondere recht viel Soldatenglück und grüßen Dich aufs herzlichste.

 

Trautenau, den 19. 4. 1945

Lieber Kurt!

Recht herzlichen Dank für Deine am 14. d. M. zur Post gegebenen Zeilen und das Gedicht „Abendlied“. In der vierten Strophe ist ein Stilfehler. „Stille breitet ihre Schwingen übers weite Erdenrund…“ Der Satz an sich ist wahre Poesie, der Sinn durch nichts gestört für den, der nur des Dichters Atem spürt. Der Literaturkritiker, der schärfere Maßstäbe anlegen muss, sei es, um einen jungen Lyriker durch schöpferische, also positive Kritik zu präziserem Schliff zu erziehen, sei es, um ihn in eine bestimmte Bahn zu lenken, bleibt bei dem Satz hängen, weil die Logik der Versformung ihn hierzu zwingt. Ein Flüchtigkeitsfehler, der beim Nachlesen durch den Verfasser in der Regel durch logische Umformung des betreffenden Satzes behoben wird. Die Abendstille kann sich nicht an einem Abend über das ganze Erdenrund breiten. Ist Dir das klar? Na klar. Höre ich Dich antworten. Ich sehe, dass Dein hartes Leben Deine poetische Seele nicht hart gemacht hat, also der Kern der alte naturgegebene geblieben ist – und das freut mich am meisten, zumal Menschen Deines Alters nur zu gerne äußeren Einflüssen unterliegen. Lasse durch Nichts in Dir sterben, was einer dauernden Weckung bedarf.
Mit Stolz vernahm ich die Kunde, dass Du Tempo 100, also 100 Morsezeichen in der Minute, aufnehmen kannst. Wenn Du Deine Tüchtigkeit ins praktische Leben überträgst, macht mich das glücklich. Du weißt, was es für mich bedeutet, glücklich zu sein. Immer habe ich mir erträumt, dass mir das in einer Ehe versagt gebliebene Glück einmal von meinen Kindern bereitet wird. Zwischen Lebenszufriedenheit und Lebensglück besteht – das wirst Du im Leben schon noch gewahr werden – ein sehr großer Unterschied. Der Beginn des Glücks wäre, kehrtest Du erst einmal gesund heim.
Mit Sorge vernehme ich von Deiner Abstellung. Dass ich täglich in einem „seelischen Funkspruch – wenn ich so sagen darf – alle Glück wünsche, vermerke ich nur nebenbei, weil es zum selbstverständlichen Denken an Dich gehört. Dass Roosevelt plötzlich verstarb, ist kein Gerücht. Ein solches aber, dass Stalin krank sei. Das Volk kombinierte bei Roosevelts Tod die sinnlosesten Dinge, sodass unsere Zeitungen erklären mussten, dass dieser Tod keine politischen und militärischen Veränderungen nach sich ziehen wird. Mein Gott, die Propaganda weiß halt, Propaganda zu treiben Tatsache ist, dass die Abschnürung des Rumpfreiches immer mehr fortschreitet und wir eines Tages werden fragen müssen, wann uns der Atem ausgeht. Es geschehen keine Wunder. Roosevelt ist keine Katharina II. zur Zeit Friedrichs des Großen.
Die OKW-Berichte werden immer realistischer. Aber man verschweigt immerhin noch ein bisschen, wie zum Beispiel die Angriffe auf sudetendeutsche Städte, zu denen Gottlob Trautenau noch nicht gehört. Unser Raum ist immerhin etwas kleiner geworden als vor der Westinvasion. Da spricht es sich rasch herum, wo was los war.

Für heute, mein lieber Junge, muss ich schließen, wünsche Dir alles Gute, wie immer alles Glück und grüße Dich auf herzlichste.

 

Trautenau, 22. 4. 1945

Lieber Kurt!

Die Abschrift Deines Gedichtes „Abendlied“ kann ich erst heute beilegen, obwohl ich es Dir vorgestern versprochen hatte. Zum Gedicht selbst habe ich bereits am 19. d. M. geäußert Ich freue mich nach wie vor, dass Du trotz der kriegerischen Ereignisse in und um Berlin die Zeit findest, Deine Seele sprechen zu lassen.
Vorgestern früh wurden in Trautenau wiederum zwei Deserteure, junge Panzermänner, erschossen. Diesmal wie auch die vorangegangenen Male nicht mehr, wie das erste Mal, „durch Volkszorn“ mit aufmarschierter Wehrmacht und stillgestandenem Volkssturm, sondern unauffällig. Aber ein Teil der Bevölkerung hat doch vom Stadtpark her die Schüsse gehört.
Ich hatte vom Freitag auf gestern früh Nachtdienst beim Volkssturm. Die Angehörigen der 4. Kompanie haben unter anderem auch Telefondienst zu machen. Also saß ich von 1 bis 5 Uhr im Portierhaus der Firma Etrich in Jungbuch und wartete auf die Alarmmeldungen. Vorfälle: keine! Wenige Tage vorher hatte der Jungbucher Volkssturm entwichene russische Kriegsgefangene einzufangen. Es gelang, einen Mann „einzubringen“. Eines Nachts wiederum sprangen vier Fallschirmschützen ab. Ermittlung: eigene Soldaten. Warum? Ursache unbekannt. Dann wiederum beobachtete der Volkssturm ein kleines Schraubenflugzeug, „vermutlich“ in Trübenwasser gelandet.
Ermittlung: in Trautenau bei der Kaserne gelandet. Kuriermaschine des OKW-Feldkommandos Ost, Sitz unsere Heimat.
Frau Träger traf mich gestern Nachmittag beim Kino und meinte, der Ossi wäre wohl in Gefangenschaft geraten. Wie mir bekannt, soll Kassel „bis zum letzten Mann“ verteidigt werden und ein totaler Trümmerhaufen sein. Wir werden von uns aus Nachforschungen nach Ossis Verbleib anstellen. Ich glaube auch, dass er in Gefangenschaft geriet.
Am Vorabend des Führergeburtstages (20. 4.) hörte ich die Rede von Dr. Goebbels. Sie versprach uns den Sieg. Die Zeitungen sagen dasselbe. Die Parteigenossen verweisen auf einen Wundereinsatz kleiner U-Boote und geheimnisvoller Flugzuge, die ohne Treibstoff fliegen. Inzwischen rücken die Fronten aus West und Ost immer näher an Berlin, München, Linz, Brünn, Ostrau und Dresden. Welche Botschaft werden wir zum 1. Mai hören? Bald ist das Reich in Streifen zerschnitten. Aber wir werden siegen, sagt die Partei. Wehe, wenn man uns täuscht, sagt das Volk. Am 10. 5. 1940 erfolgte der deutsche Angriff über die Westgrenze. Was ist das Ergebnis dieser fünf Jahre? Am 22. Juni dieses Jahres sind es vier Jahre, dass der deutsch-russische Krieg begann. Was ist seit Stalingrad geschehen?
Gestern kam unser Stammkamerad, der Maurer Falge, aus Nürnberg nach Hause. Er gehört zur Front-OT-Kompanie, die unser Herr Ingenieur Stolička führte. Sie erhielten Befehl, Nürnberg mit zu verteidigen. Falge war Sanitäter und kam noch durch. Andere blieben in Nürnberg. Mit 25 Mann fuhr Stolička heim. Falge kam nach abenteuerlicher Fahrt gestern völlig erschöpft an Sein Mantel von Splittern durchlöchert, seine Verbandstasche durchschossen. In einer kleinen Schere verfing sich eine Kugel und er behielt so sein Leben. Was der Mann erzählte, will ich hier nicht wiedergeben.
Gestern hörte ich in den „Frontberichten“, wie die Berliner den russsichen Artilleriebeschuss aufnahmen und „wie ein Lauffeuer“ weitergaben, dass nun Berlin von den Russen beschossen werde. Im heutigen Wehrmachtsbericht, der erstmals um 16 Uhr durchgegeben wurde, hörte man die Namen Semmering (deutsche Gegenstöße), St. Pölten, Ostrau (russischer Einbruch abgeriegelt), Heranschieben der Sowjets an den äußeren Verteidigungsring von Berlin, Kämpfe südlich Königswusterhausen, bei Lichtenberg, Neu-Schönhausen, nordöstlich Dresden Kämpfe bei Königsbrück, östlich Dresden bei Bischofswerda, Görlitz überflügelt. Von Brünn wird seit drei Tagen nichts oder sehr wenig gesagt. Ich las in der „Zeit“, dass allein gegen diese Stadt tausend russische Panzer auf dem Marsch seien. Damit soll angedeutet werden, dass wir Brünn nicht zu halten vermögen.
Die Verteidiger Wiens hielten sich sechs Tage. Wie lange wird sich Berlin halten? Und was geschieht mir Euch Funkern und insbesondere mit Dir? Hier rechnet man damit, dass wir durch den Verlust aller Industriereviere Mitte Mai wirtschaftlich fertig sind. Wer aber am Sieg zweifelt, ist ein Defaitist, wer ein Defaitist ist, wird erschossen, wer erschossen wird, der schweigt. Wer tot ist, wird nicht mehr lebendig und ist für immer verloren. Armes Deutschland! Aber es wird wieder reich werden und schön. Erst müssen wir dazu beitragen, dass die Vernunft siegt.

In diesem Sinne, mein lieber Junge, alles Gute, viel, viel Soldatenglück und herzlichste Grüße

 

Trautenau, den 24. 4. 1945

Lieber Kurt!

Soeben hörte ich den OKW-Bericht, der jetzt erst um 17 Uhr durchgegeben wird. Der Empfang ist seit Tagen schlecht, da viele störende Nebengeräusche. Selbst Prag war undeutlich. Endlich hatten wir ihn über Mělnik, aber schon war es zu spät, da eine „Betrachtung zur militärischen Lage“ gesendet wurde.
Summa summarum erfuhren wir, dass die Sowjets Berlin praktisch eingeschlossen haben müssen, da es hieß, „westlich der Reichshauptstadt, bei Potsdam …“ Was eigentlich los ist, weiß hier kein Mensch. Der Führer in Berlin. Übernahm selbst die Leitung der Operationen. Man sagt, Berlin werde sich halten und zum Schluss werden Prag und Berlin die Städte sein, die man niemals einzunehmen imstande war. Na also, da siegen wir doch noch irgendwie.
Hier flüstert man, dass die Tschechen zum Aufstand rüsten. Man flüstert überhaupt allerhand. Es gehen die sinnlosesten Kombinationen um. So zum Beispiel, wer nicht zum Werwolf geht, wird umgelegt. Trotzdem findet sich keine Begeisterung für dieses Unternehmen. Jeder fühlt, dass der Krieg zur Neige geht. Jeder fragt: was wird bloß auf uns warten…Die Frage klingt wie aus einem schlechten Gewissen kommend. Sie verrät Unsicherheit, Angst und Furcht.
Wir denken stets an Dich und wünschen Dir von Herzen, dass Du von allem Ungemach verschont bleiben mögest, alles gut überstehen mögest, um gesund und möglichst recht bald für immer heimkommen zu können.

Muss leider schließen. Alles Gute, viel Soldatenglück wünscht Dir und auf herzlichste grüßt Dich.

 

Trautenau, den 1. 5. 1945

Lieber Kurt!

Ich habe seit 13. April kein Lebenszeichen erhalten. Am vergangenen Sonntag las ich Deine an Mutter gerichteten Zeilen vom 13. 4. und hörte von Margit, dass Fräulein Pohl am vergangenen Montag, heute vor acht Tagen, eine Nachricht von Dir erhalten hatte. Mutter schriebst Du, dass, wenn sie Deinen Brief erhalten werde, Du bereits in einem anderen Winkel weilen dürftest. Ich glaube nicht daran, dass Du noch knapp vor der Einschließung Berlins heraus konntest und bin in sehr großer Sorge um Dein Schicksal. Wann werden Deine nächsten Zeilen einlangen?
Ich hoffe, dass Du trotz allem, was sich in den vergangenen 14 Tagen ereignete, wohlauf bist. Ich wünsche von ganzem Herzen, dass Du aus diesem furchtbaren grauenhaften Gemetzel heil herauskommst, damit wir Dich bald wieder sehen können. Weil wird Dich in Berlin vermuten, sind unsere Herzen schwer und unsagbar traurig.
Auf der Heimat ruht eine seelische Lähmung. Keiner begreift, warum der Krieg noch weitergeht, jeder fühlt, dass das Ende da ist, und keiner hat den Mut, zu sagen: „Ich mache nicht mehr mit.“ Damit sich keiner findet, dafür sorgen die täglichen Erschießungen von „Deserteuren“, die hier vorgenommen werden. Es vergeht, wie man hört, in der Tat kein Tag, an dem hier kein Todesurteil vom Standgericht gefällt wird.
Dabei weiß jeder, warum Hermann Göring ging, und der Vernünftige sagt sich, dass er wisse, wie viel es geschlagen habe. Gestern hörten wir, dass Mussolini in Mailand von dortigen Partisanen gefangen genommen, vor ein Volkstribunal gestellt, zum Tode verurteilt und sofort erschossen wurde. Unsere Front in Norditalien ist praktisch in Auflösung. Gestern schwirrten hier auch Gerüchte umher, Himmler habe durch Vermittlung des Vizepräsidenten des schwedischen Roten Kreuzes, Grafen Bernadotte, Churchill und Truman die Kapitulation angeboten, jedoch nicht Stalin. Die Kapitulation wurde aber abgelehnt, weil sie nicht auch in einem an Stalin erfolgte. Dass etwas im Gange sein muss, merkten wir beim sonntägigen OKW-Bericht, der uns mit der Mitteilung überraschte, dass unsere an der Elbe kämpfenden Heere den Amerikanern den Rücken gekehrt haben, um Berlin Entsatz zu bringen. Wir sagten uns sofort, dass dies einer Kapitulation vor den Westmächten gleichkomme und zum Ziel haben müsse, unsere Wehrkraft nur nach Osten wirken zu lassen. Ich glaube, dass man damit zum wiederholten Male die Kraft Russlands unterschätzt hat, ohne das die USA und Großbritannien nichts unternehmen werden. Man merkt immer wieder, dass die Alliierten eben alliiert sind und nicht „heimliche Feinde“, wie Goebbels es darzustellen sich immer wieder bemühte und bemüht.
Verständnislos steht das hiesige Volk den weiteren Schanzbefehlen gegenüber. Man fühlt, dass das Kriegsende da ist und schanzt weiter. Heute, am 1. Mai, muss überall gearbeitet werden. Pardon: der Kreis Hohenelbe arbeitet nur zum Teil. Was dort nicht lebenswichtig ist, feiert den 1. Mai durch Daheimbleiben. Trautenau aber arbeitet nicht nur, es schanzen auch alle Staatsbeamten sowie Beamte und Angestellte der öffentlich-rechtlichen Institute (Krankenkassen etc). Dabei erzählt man sich, Dr. Kellner, derzeit Bürgermeister von Trautnau, werde dieses zur Offenen Stadt erklären. Wie bekannt, ist er der maßgebende SS-Führer. Wie reimt sich die Offene Stadt mit den weiteren Schanzarbeiten? Angeblich muss man die Arbeiter irgendwie beschäftigen, weil die Fabriken stehen. Einerseits keine Rohstoffe, andererseits keine Absatzmöglichkeiten. Wenn man die Leute daheim ließe, würden sie zuviel nachdenken – und das sei nicht erwünscht. Gewisse Leute denken prinzipiell nicht, was Dir ja bekannt ist. Und die, die noch nicht sture Roboter sind, werden – da sie geistige Arbeiter sind – körperlich durch das Schanzen so müde gemacht, dass sie des Abends froh sind, die abgerackerten Knochen ins Bett legen zu können und nicht mehr denken zu müssen.
In der Stadt herrscht – so höre ich eben – Aufregung. Etwas Großes werde sich in den nächsten zwei drei Tagen ereignen. Was kann es schon sein? Der Endsieg! – Die Entwicklung geht nach links.
Am Sonntag fanden Wahlen in Frankreich statt. Die Kommunisten haben – wie das DNB (Deutsches Nachrichten Büro) gestern meldete – 40 % aller Stimmen erhalten. Man konnte genaue Resultate nicht hören. Es muss eine absolute Linksregierung kommen, da noch die sozialdemokratischen und linksbürgerlichen Stimmen dazu kommen. Nachdem in der neuen tschechoslowakischen Regierung (Sitz Kaschau) keine Vertreter des tschechischen Bank-, Industrie- und Agrarkapitals vertreten sind, sondern nur Sozialdemokraten, tschechische Nationalsozialisten, Kommunisten, Christliche und Mittel- bzw. Kleinbauern, wurde in England eine tschechische Gegenregierung mit General Prchala an der Spitze gebildet. Sie vertritt, wie der Pole Mikolayczik, das eben genannte Kapital.
Der Streit um die Teilnahme Polens an der Konferenz von San Franzisco ist ein Streit zwischen Kapital und Arbeit. Die kapitalistischen Schichten des Westens, im Prinzip Gegner Churchills und Roosevelts (jetzt Trumans), begünstigen die kapitalistischen Schichten der polnischen Vertretung in London, Moskau steht hinter dem Lublin-Ausschuss mit dem neuen polnischen Präsidenten Bierut an der Spitze. Die Verbündeten Stalins haben in Yalta (Krimkonferenz) Stalin vorgeschlagen, das Lubliner Komitee durch Vertreter demokratischer (nicht nur sozialistischer) Kreise zu erweitern. Da es zu dieser Erweiterung bisher nicht kam, lehnen London und Washington die Annahme eines Delegierten des Lubliner Ausschusses auf der San-Franzisco-Konferenz ab. Gut, sagte sich (der sowjetische Außenminister) Molotow, und schlug je einen Vertreter für die Ukraine und Weißrusslands vor und siehe da: die Frisco-Konferenz hat den Vorschlag akzeptiert. Das ist russische Politik. Diese Bundesstaaten der Sowjetunion geben also je eine Stimme für Russland. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wird also – wie die Zeitungen berichten – drei Stimmen bei der Abstimmung in die Waagschale der Konferenzbeschlüsse werfen können. Also wird Russland in Frisco, wie überall siegen. Das scheint schon so klar auf der Hand zu liegen, dass Molotow nach zehntägiger Teilnahme an der Konferenz beruhigt nach Moskau fahren und sich vom russischen Botschafter in den USA, Gromyko, vertreten lassen kann.
So gehen die Dinge dem Kriegsende entgegen. Man sieht allerorts, wie der revolutionäre Sozialismus im Vormarsch ist. War dieser Krieg nötig mit all seinem Grauen und seinen Opfern? Wozu noch hat man Euch Siebzehnjährige ins Feuer gejagt? Wir sitzen da, übermüdet von der Arbeit und zermürbt von durchwachten Nächten, in denen wir uns die Frage nach Eurer Heimkehr immer wieder vorlegen, und in unseren Herzen brennt ein Schrei: gebt uns unsere Kinder, unsere Brüder, gebt den Kindern ihre Väter, den Frauen ihre Männer, den Müttern ihre Söhne wieder! So denken wir. Und was tun wir? Wir sind gelähmt vor Egoismus und Feigheit, wir finden nicht die Kraft, wie wir sie vorher nicht fanden, das Ende des Krieges zu verlangen. Wir alle sind Gefangene einer Psychose, eingeschüchtert durch die Polizei- und Gestapomethoden eines Reiches, dessen Söhne keine Geringeren waren als Goethe, Schiller, Kant, Hegel, Fichte und viele andere gleichwertige.
Doch einmal werden wir erwachen aus der Hypnose und wieder klar denken, um vernünftig, das heißt menschlich zu handeln. Mein lieber Junge, mögen diese Zeilen Dich recht bald erreichen und möge mir ein Lebenszeichen künden, wo Du bist und wie es Dir geht.

Alles Gute wünscht Dir und herzlichst grüßt Dich Dein Vater.

* * *

Am selben Tag, an dem Eugen Nelhiebel diesen (letzten) Brief an seinen Sohn schrieb, also am 1. Mai 1945, geriet Kurt in Berlin in sowjetische Kriegsgefangenschaft. In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai konnte er fliehen und versteckte sich in den Wäldern westlich von Trebbin, ehe er am Morgen des 9. Mai in der Nähe von Treuenbrietzen erneut Rotarmisten in die Hände fiel. Von ihnen erfuhr er, dass der Krieg in der Nacht zu Ende gegangen war. Im Überschwang des Sieges ließen die Soldaten ihn laufen.

Am 21. Mai erreichte er Hohenelbe (Vrchlabi), von wo aus er seinen Vater telefonisch von seiner bevorstehenden Heimkehr unterrichtete. Am 24. Mai wurde er in Arnau (Hostinné) von tschechischen „Partisanen“ in Gewahrsam genommen. Ein glücklicher Zufall rettete ihn vor der drohenden Erschießung. Bei ihm wurde der Brief seines Vaters vom 28. Januar 1945 entdeckt, den er als einzigen über die Wirren des Krieges und der Gefangenschaft hingerettet hatte. Am 14. Juni wurde Kurt ungeachtet seines antifaschistischen Familienhintergrundes in einem Lager für ehemalige Nazifunktionäre, SS-Leute und Wehrmachtsangehörige interniert. (Seine Erlebnisse schilderte er später unter der Überschrift „Das Gab in der Wiese“. Siehe Anhang)

Der Vater wandte sich darauf hin in einem Brief an den stellvertretenden Vorsitzenden der Regierung der tschechoslowakischen Republik, Klement Gottwald, der zugleich Vorsitzender der Kommunistischen Partei der ČSR war, und bat um die Freilassung seines Sohnes. Gottwalds Sekretariat bestätigte den Eingang des Schreibens am 26. Juni 1945. Das Original der Antwort aus Prag existiert noch. Eugen Nelhiebel schrieb:

Verehrter Genosse Gottwald!

Ich wende mich als ehemaliger in Nord- und Ostböhmen tätiger kommunistischer Sekretär und Redakteur an Sie mit der Bitte, meinen in Kalná Voda u Trutnova internierten Sohn freisetzen zu helfen, damit er wieder ein Zivilarbeitsverhältnis eingehen kann.
Um mich Ihnen in Erinnerung zu bringen, erlaube ich mir darauf zu verweisen, dass ich Ihnen außer in Prag auch öfters in Reichenberg im Kreissekretariat begegnete, wenn Sitzungen des Kreisbüros oder der Sekretäre und Redakteure stattfanden. Ich schied eines Konflikts mit den Reichenbergern wegen aus der KPČ aus und blieb parteilos bis 1938, in welcher Zeit ich antifaschistische Artikel für die deutsche Sozialdemokratie schrieb, um im März 1938 in den „Jednotný svaz soukromých zaměstnanců v Praze II., Na Zbořenci 18“ als Gewerkschaftssekretär berufen zu werden, in welchem ich bis Mitte Dezember 1938 verblieb. Ich sollte seinerzeit mit der Gewerkschaftszentrale nach London emigrieren, musste aber meiner damals noch zu kleinen Kinder wegen zurück nach Trautenau, wissend, dass mir eine außerordentlich schwere Zeit bevorstehen wird. Vom April 1939 bis dato bin ich bei der Firma Pittel & Brausewetter als Angestellter tätig. Ich blieb allen Stürmen der Zeit zum Trotz Marxist. Zur Zeit meiner Tätigkeit im Jednotný svaz war ich politisch bei der deutschen Sozialdemokratie in Prag organisiert, weil die deutsch sprechenden Sekretäre bei dieser, die tschechisch sprechenden bei der čech.soc.dem. waren.
Zum Fall meines Sohnes führte ich konkret an: Er wurde am 29. 6. 1927 in Něm. Jablonné u Liberce geboren. Am 12. 12. 1944 wurde er aus der 3. Klasse der Trautenauer Handelsakademie zur Wehrmacht eingezogen, um in Liegnitz zum Funker ausgebildet zu werden. Infolge des stürmischen Fortschreitens der Sowjetoffensive wurde die Nachrichten-Ausbildungsabteilung Liegnitz nach Berlin verlegt, wo mein Sohn Anfang Mai dieses Jahres den Fußmarsch nach Trautenau antrat, nachdem russische Offiziere ihm erklärte hatten, er solle „zu seiner Mutter“ gehen. Nach Ausheilung seiner auf dem Marsch völlig vereiterten Füße musste er sich beim Vojenské velitelstvi v Trunově melden. Dies war am 5. dieses Monats. Der zuständige Offizier, Herr Leutnant Kučera, erklärte, mein Sohn könne sich eine Arbeit als Schwerarbeiter, keineswegs als Student suchen. Er nahm hierauf durch die Vermittlung des Arbeitsamtes Trautenau eine Stellung als Landarbeiter in Bohuslavice an. Für den 14. wurde er wieder vorgeladen, um das Arbeitsverhältnis nachzuweisen. Dies tat er durch die Vorlage des Arbeitsbuches. Herr Leutnant Kučera erklärte, er müsse meinen Sohn ins Gefangenenlager schicken. Als ich fragte, warum er seine ursprünglich getroffene Disposition ändere, antwortete er, er müsse entsprechende Befehle ausführen.
Ich bin durch die Internierung meines Sohnes umso mehr schwer getroffen, als ich politisch trotz allen Terrors der Nazis den Idealen des revolutionären Sozialismus treu blieb. Ich hatte schwerste Strafen angedroht erhalten, weil mein Sohn seinen Dienst in der Hitler-Jugend schwänzte, musste öfter zu Verhören, sollte über Auftrag der NSDAP fristlos entlassen werden, weil ich „den Betrieb Pittel & Brausewetter in Trautenau kommunistisch infiltriere“, war unter schwersten Druck gesetzt worden, weil ich an keiner Versammlung der NSDAP teilnahm, mich weder im Luftschutzbund noch beim Deutschen Roten Kreuz und schon gar nicht beim „Volkssturm“ betätigte. Mein Aufgabe bestand darin, nicht nur etwa dem deutschen Teil unserer Belegschaft, sondern insbesondere den čechischen Arbeitern, sowie den bei uns tätigen Kriegsgefangenen, insbesondere den sowjetischen und allen Ostarbeitern, nach besten Kräften und mit Mitteln zu helfen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.
Der „Revolutionäre Betriebsrat“ unserer Firma hat dem okresní národní výbor v Trutnově in seinem Schreiben vom 15. 5. 1945 mitgeteilt: „…na svém mistě zustane administr. ůředník Nelhiebel Evžen, který se zvláště po celou dobu valky zasloužil pro české dělnicstvo a ruské zajatce …“ („…auf seinem Platz verbleibt der Verwaltungsangestellte Nelhiebel Eugen, der sich besonders während der ganzen Dauer des Krieges für tschechische Arbeiter und russische Gefangene eingesetzt hat…“)
Für mein Verhalten während der Dauer des Krieges führe ich als Referenzen an:

Palir Jaroslav Trejbal, Slemeno 39, okres Jílemnice,
zavodní kuchář Václav Vích, Nová Paka, 28
skladník Josef Ullrych, Nová Paka 95,
stavbyvedoucí Jan Veisser, Trutnov, národní spravce firmy Pittel & Brausewetter, náměstí dr. Edv. Beneše 15,
stavitel Attilio Foschi, adresa jak u pana Veissera,

sowie die Mitglieder unseres Betriebsrates. Dass ich meinen Sohn in sozialistischem Sinne erzogen habe, beweisen die an ihn gerichteten Briefe als Soldaten, mit welchem ich nach Aussage des Vorsitzenden unseres Betriebsrates „Kopf und Kragen riskierte habe“. Wie schwer man ihm das Studium in der Handelsakademie gemacht hat, will ich hier unerwähnt lassen, denn es wurde durch die Professoren mehr Gesinnungsschnüffelei getrieben als fachlich gelehrt.
Mein Sohn beging beim Heimmarsch aus Berlin einen Fehler: Er warf sein Soldbuch aus Angst fort. Ich entschuldige dies mit den Jahren seiner Jugend, weil Siebzehnjährige nie wissen, was in solchen Fällen nützt oder schadet. Weil mein Leben als revolutionärer Sozialist so schwer war und mein Sohn keineswegs ein Nazi gewesen ist, bedrückt mich seine Gefangennahme nach der Rückkehr vom Wehrdienst so sehr, dass ich den Entschluss fasste, mich an Sie zu wenden und ihre menschliche Hilfsbereitschaft zu erbitten. Obwohl ich perfekt čechisch spreche, habe ich, um grammatikalische Fehler zu vermeiden und Zeit zu sparen, die unserem Betrieb teuer ist, deutsch geschrieben, was ich zu entschuldigen bitte.
Ich wäre Ihnen, verehrter Genosse Gottwald, außerordentlich dankbar, wenn Sie die Güte hätten, meiner Bitte nach Freisetzung meines Sohnes aus dem Gefangenenlager entsprechen zu können und danke Ihnen für Ihre freundlichen Bemühungen im voraus aufs wärmste.

Práci čest!

(Wenige Wochen später wurde Kurt Nelhiebel aus dem Lager entlassen.)

 


Göppingen, den 26. 6. 1958

Lieber Kurt!

Zu Deinem Geburtstag wünschen meine Lebensgefährtin Tante Anni und ich Dir alles, alles Gute, vor allem Glück und Zufriedenheit, so wie viel Erfolg in Deinem beruflichen Fortkommen. –
Wenn ich an den 29. Juni 1927 denke, an die achte Stunde dieses Tages, da Arzt und Hebamme der äußerst kritischen Situation wegen vor der Frage standen: Mutter oder Kind – und die Antwort lauten musste: die Mutter, da schickte der Primarius des Deutsch-Gabler Krankenhauses sich an, wie er sagte, „das Kind in Stücken ‚zur Welt’ zu bringen“. Dr. med. Bittner ging aber sehr, sehr vorsichtig zu Werke, um schließlich das ganze Kind, nicht ohne erhebliche Verletzung der Mutter, in Händen zu halten. Es atmete aber nicht und alle medizinischen Kunststücke blieben ohne Erfolg, so dass er murmelnd meinte: „Totgeburt“, laut aber nach einem großen Topf kalten Wassers verlangte. Ich brachte es ihm und er schüttete es über das Neugeborene, welches er an den Beinen, Kopf nach unten, hielt. Das Wasser über das kleine Etwas gießend und das Kind in schwungvollem Bogen nach oben zu drehen, das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Da begann der Blutkreislauf zu funktionieren – und der Bub schrie auf, einmal, zweimal – und dann fortgesetzt einige Minuten, bis Dr. Bittner es in ein Handtuch gewickelt auf das Sofa im Zimmer gelegt hatte. Da lag es nun still, und gerettet waren Mutter und Kind.
In die Küche des Hauses Lange Straße 57 zurückkehrend, die rasch zum „Operationssaal“ umgewandelt worden war, begann der Arzt die Schmerzen der stöhnenden Mutter zu lindern. Nach einer halben Stunde trugen wir, der Arzt und ich, sie ins Bett und legten den Buben dazu. Es war indes neun Uhr geworden und der kleine Mann war da schon eine Stunde alt. Um zehn Uhr ging ich zum Uhrmacher und kaufte mir aus Freude eine Taschenuhr, Marke „Omega“, mit dem Bemerken: „Ich habe vor zwei Stunden einen Sohn geschenkt erhalten. Mir soll diese Uhr eine stete Erinnerung bleiben und wenn ich sterbe, kriegt die Uhr mein heute zur Welt gekommener Sohn.“ Der Uhrmacher lächelte und meinte: „Ist das eine Freude für Sie!“ Und draußen war ich aus dem Laden.
Das war vor 31 Jahren. Die Uhr vom 29. Juni 1927 wird eifersüchtig gehütet und gepflegt. Wenn wir wissen wollen, wie spät es ist, befragen wir nur diese Uhr, und ergehen uns dann in Erinnerungen an meines Sohnes Leben, an seine Kindheit, Schulzeit, Soldatenzeit, Notzeit und an die Tage, da tschechischer chauvinistischer Wahnsinn ihn, knapp achtzehnjährig, erschießen lassen wollte, weil er Funker bei der Wehrmacht war; wir denken an seine Blinddarmoperation, die „organisiert“ wurde, um den Burschen aus dem Kriegsgefangenenlager, das ein Todeslager geworden war, herauszubekommen. Wir denken an die Umsiedlung, die Hungerzeit, das schwere wirtschaftliche und berufliche Los meines Sohnes, an seine Heirat und wir denken und reden oft von meines Sohnes Sohn, dem Klaus.
So wachsen Menschen, so wachsen Generationen und das Alte versinkt im ewigen Kreislauf, dem Jungen die Wege bereitend für kommende Jugend. Möge das Glück ihnen allen hold sein, so auch Dir, lieber Kurt.

Herzlichst – Dein Vater


Der Brief des Vaters

(Conrad Taler)

Wie lange ich zu gehen haben würde, wußte ich nicht. Der Krieg war zu Ende, und ich wollte nach Hause. Vor mir lagen etwa vier- bis fünfhundert Kilometer. Züge oder Busse gab es nicht. Ich mußte den Weg zu Fuß zurücklegen. Daß der Krieg zu Ende war, hatte ich vor ein paar Stunden von russischen Soldaten erfahren, denen ich am Morgen des 9. Mai 1945 am Stadtrand von Treuenbrietzen in die Arme gelaufen war. Es war nicht meine erste Begegnung mit der Roten Armee. Eine Woche zuvor war ich in Berlin als Funker der Wehrmacht in Gefangenschaft geraten, hatte aber nach drei Tagen während einer nächtlichen Rast in Trebbin fliehen können.

Fünf Tage und fünf Nächte versteckte ich mich im Wald, bis mich der Hunger wieder in die Nähe von Menschen trieb. Aus einem Haus kamen sowjetische Soldaten gelaufen. Sie lachten und riefen immer wieder: »Woina kaput, Woina kaput.« Krieg kaputt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie mir sagen wollten. Die Wehrmacht hatte kapituliert. Ich fragte nach etwas Eßbarem. Einer der Soldaten lief zurück in das Haus und brachte mir ein Stück Brot und ein Kochgeschirr halb gefüllt mit Zucker. Eine seltsame Nähe verband mich in diesem Augenblick mit den fremden Soldaten. Waren sie nicht auch arme Schweine? Einer der Rotarmisten band mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Oberarm und sagte: »Du nach Chause.«

Um künftig nicht schon von weitem als Landser erkannt zu werden, so nannte man die Soldaten damals, entledigte ich mich noch am selben Tag meiner Wehrmachtsjacke und streifte eine Windbluse über, die ich am Straßenrand in einem Haufen weggeworfener Kleidungsstücke entdeckt hatte. Als ich Stunden später, wie gewohnt, an die linke Brusttasche griff, zuckte ich zusammen. Dort steckten immer die Briefe meines Vaters, die mich, wenn einmal alles vorbei war, als Sohn eines Hitlergegners ausweisen sollten. Ich hatte sie in der weggeworfenen Wehrmachtsjacke vergessen. Mit fliegendem Atem rannte ich zurück, aber inzwischen hatte jemand sämtliche Taschen geleert. Verzweifelt tastete ich den Stoff immer wieder ab und fand schließlich am unteren Rocksaum zwischen Futter und Stoff einen der Briefe, der durch ein Loch nach unten gerutscht sein mußte.

In Kurzlipsdorf, einem kleinen Ort etwa zwanzig Kilometer südlich von Treuenbrietzen, klopfte ich am Abend an die erstbeste Tür und fragte nach einem Nachtlager. Ich wurde freundlich aufgenommen. Zum ersten Mal seit Wochen schlief ich in einem Bett. Am nächsten Morgen marschierte ich weiter. Da ich nichts besaß, womit ich mich hätte ausweisen können – mein Soldbuch hatte ich weggeworfen – mied ich größere Orte. Jeden Tag legte ich etwa dreißig Kilometer zurück. In der Nähe von Pirna brachte mich ein Mann mit seinem Ruderboot ans andere Ufer der Elbe. Deren Quelle war jetzt nicht mehr gar so weit weg. Dort im Riesengebirge lag auf der tschechischen Seite mein Zuhause.

Berichte von Landsern über Greueltaten gegenüber Deutschen ignorierte ich. Was sollte mir schon passieren. Ich hatte ein gutes Gewissen, und mein Heimweh war groß. Auf Waldwegen überquerte ich bei Sebnitz die sächsisch-tschechische Grenze. Von Vrchlabi (Hohenelbe) aus rief ich meinen Vater in Trutnov (Trautenau) an und signalisierte ihm, daß ich in zwei Tagen daheim sein werde. In Hostinné (Arnau) bekam meine Zuversicht einen Dämpfer. Eine bewaffnete Zivilstreife hielt mich an. Die beiden Männer trugen Armbinden mit der Aufschrift SNB, Stráž Národné Bezpečnosti, auf deutsch Wächter der nationalen Sicherheit. »Němec?« fragten sie, Deutscher? Ich nickte. Links und rechts von je einem Bewacher flankiert wurde ich in ein Gebäude gebracht, in dem uns Männer mit umgehängten Gewehren umringten »Wo habt ihr den denn geschnappt?« fragten sie. Ihrem Verhalten entnahm ich, daß sie es gewohnt waren, Leute wie mich in Empfang zu nehmen. Auch was weiter geschehen würde, schien festzustehen. Ich sollte erschossen werden, es ging nur noch darum, wer es macht. Anscheinend dachten die Männer, daß ich sie nicht verstehe, aber ich hatte jedes Wort verstanden. Lähmendes Entsetzen befiel mich. Meine Beine wurden schwer wie Blei und mein Herz hämmerte wild gegen die Rippen. Die Auflehnung gegen das blinde Wüten des Schicksals schüttelte mich wie ein Krampf. Könnte ich jetzt doch schlafen, dachte ich, nur noch schlafen, ich bin so müde.

Mit einem Mal wurde es still. Die Anwesenden traten zur Seite und salutierten. Ein Mann in hellem Trenchcoat, den sie mit »Pane velitele«, Herr Kommandant, anredeten, fragte mich nach meinem Namen und meinem Geburtsort. Ich sei ein Vaterlandsverräter, sagte er. Niemals hätte ich als tschechischer Staatsbürger zur Wehrmacht gehen dürfen, hielt er mir vor. Einwände wischte er beiseite. An den Brief meines Vaters dachte ich nicht. »Komm mit«, sagte der Mann im hellen Staubmantel und zog mich Richtung Ausgang. Er will dich erschießen, ging es mir durch den Kopf. In einer Polizeiwache auf der anderen Straßenseite wurde ich nach Waffen durchsucht. Anschließend tastete der Mann im Trenchcoat meinen Oberkörper selbst noch einmal ab und zog mit spitzen Fingern den Brief meines Vaters aus meiner Brusttasche.

Ohne den Blick von mir zu wenden, machte er ein paar Schritte rückwärts und faltete das mit Maschine beschriebene zerknitterte DIN A 5 Blatt auseinander. Laut las er dann vor, was mein Vater geschrieben hatte. »Soll denn unsere Jugend völlig verbluten? Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?« Mit ernstem Gesicht trat der Mann, in dessen Hand mein Schicksal ganz offensichtlich lag, vor mich hin. »Dieser Brief hat dir das Leben gerettet«, sagte er gepreßt. Und an die Polizisten gewandt: »Stellt ihm einen Passierschein aus.« Dann drehte er sich um und verließ grußlos den Raum. Als ich auf die Straße trat, regnete es. Zum ersten Mal seit Wochen hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Meine innere Anspannung löste sich. Tränen schossen mir in die Augen und rannen vereint mit den Regentropfen über meine Wangen. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. Wieder ging meine Hand zur linken Brusttasche, in der neben dem Brief meines Vaters der rettende Passierschein knisterte. Am selben Tag, zwei Wochen nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, war ich zu Hause.

Der vollständige Briefwechsel aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen unserem Autor und seinem Vater steht in dem Buch »Im Wirrwarr der Meinungen«, das Conrad Taler unter seinem bürgerlichen Namen Kurt Nelhiebel veröffentlicht hat (Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2013). Siehe auch auf dieser Webseite unter…

Ossietzky, 9 (2015)…

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