Vertanes Erbe

Nürnberg und die deutsche Justiz

Wie das Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher unterlaufen wurde

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Das von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ins Leben gerufene Nürnberger Tribunal hat stellvertretend für die zivilisierte Welt die von Deutschen im Auftrag der NS-Führung begangenen Verbrechen verurteilt und die von den Nazi-Machthabern erlassenen Gesetze für null und nichtig erklärt.

Zehn Jahre später urteilte der Bundesgerichtshof (BGH) im Prozess gegen einen ehemaligen SS-Richter, für die Frage, ob sich der Beschuldigte der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht habe, sei nicht entscheidend, wie sich die Ereignisse von damals nach heutiger Sicht darstellten. Vielmehr sei ins Auge zu fassen, wie sich seine Aufgabe nach der Gesetzeslage zur Tatzeit darstellte. „Ausgangspunkt dabei ist das Recht des Staates auf Selbstbehauptung“, heißt es in dem Urteil vom 25. Mai 1956. „In einem Kampf um Sein oder Nichtsein sind bei allen Völkern seit jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden. Auch dem nationalsozialistischen Staat kann man nicht ohne weiteres das Recht absprechen, dass er solche Gesetze erlassen hat.“ Angeklagt war der ehemalige Chefrichter beim SS-und Polizeigericht München, Otto Thorbeck. Er wurde freigesprochen.

Mit seiner Begründung brachte der Bundesgerichtshof das gesamte Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Einsturz, fielen doch die meisten ihrer Taten und die von ihnen erlassenen Gesetze in eine Zeit des „Kampfes um Sein oder Nichtsein“. Dass der BGH dem

NS-Staat das Recht zubilligte, aus Gründen der Selbsterhaltung strenge Gesetze zu erlassen, hebelt – von allem anderen abgesehen – alle späteren Prozesse wegen Völkermordes aus. Nach dieser Logik hätten auch die bosnischen Serbenführer Milosevic und Karadzic das Recht auf Selbstbehauptung für sich reklamieren können. Das haben die meisten Kommentatoren, die die Bedeutung des Nürnberger Urteils im Wesentlichen auf die späteren Völkermordprozesse bezogen, übersehen.

Für den demokratischen Wiederaufbau spielte die Aburteilung der Naziverbrecher durch die Alliierten eine wichtige aber keineswegs ausschlaggebende Rolle. Viele sahen in der „Siegerjustiz“ einen Umerziehungsversuch, von dem sich die meisten nicht angesprochen fühlten. Die anschließende Entnazifizierung entpuppte sich als Farce, bei der die Kleinen „gehängt“ und die Großen laufengelassen wurden.

Gleichsam im Vorgriff auf die Nürnberger Prozesse hatte der spätere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in der schwedischen Emigration zur Lösung des Kriegsverbrecherproblems ein Weltgericht gefordert. „Noch besser wäre es, wenn das deutsche Volk den Ausgleich selbst vollziehen würde“, schrieb er in seinem Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Ein ehrliches deutsches „J’accuse“, würde, so Bauer, das eigene Nest nicht beschmutzen. „Es wäre ganz im Gegenteil das Bekenntnis zu einer neuen deutschen Welt.“ (Irmtrud Wojak, Fritz Bauer. Eine Biographie. Eschenlohe: BUXUS EDITION, 2019, S. 180 f.)

Zwei Menschenalter danach sieht die neue deutsche Welt anders aus, als manche sich das dereinst erhofften. Nicht die von den Nazis aus der Heimat vertriebenen Patrioten, die an der deutschen Geschichte mitgeschrieben und sie zum Guten hin beeinflusst haben – so Andreas Vosskuhle als Präsident des Bundesverfassungsgerichts über Fritz Bauer – gaben den Ton an, sondern die alten Eliten, denen nichts ferner lag als eine wirkliche Umgestaltung, wie sie die CDU noch in ihrem Ahlener Programm gefordert hat. Heute sitzt eine Partei in Kompaniestärke im Bundestag, deren Vorsitzender die Nazi-Zeit als „Vogelschiss“ abtut und die sich mit Leuten gemein macht, die als Besucher getarnt in das Parlamentsgebäude eindringen und dort Abgeordnete bedrängen und beschimpfen, wie das die Nazis in der Weimarer Zeit getan haben. Mene mene tekel u-parsin.

Quelle: Weltexpresso, Frankfurt am Main, 23. November 2020

 


Rechtsstaat und Menschenwürde

Nazigegner aus politischen Gründen um Entschädigungsrente gebracht

Kurt Nelhiebel

(Weltexpresso, Frankfurt am Main) Die Würde des Menschen ist antastbar – obwohl im Grundgesetz das Gegenteil steht. Dort heißt es, und man kann es nicht oft genug zitieren. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Verletzung der Würde eines Menschen ist die Verletzung eines Menschen in seiner tiefsten Seele, eine Demütigung, die ein Leben lang schmerzt.

Tausende mussten diese Demütigung ertragen, als ihnen der demokratische Rechtsstaat wegnahm, was ihnen nach der Verfolgung durch die Nazis zustand – die Entschädigung für erlittenes Unrecht. Es war eine Demütigung in doppelter Hinsicht, hatte ihnen derselbe Rechtsstaat doch bescheinigt, „dass der aus Überzeugung oder um des Glaubens oder des Gewissens willen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistete Widerstand ein Verdienst um das Wohl des deutschen Volkes und Staates war“. So steht es in der Präambel zum Bundesentschädigungsgesetz (BEG) vom 18. September 1953.

Genommen wurde ihnen die Entschädigung aus politischen Gründen und damit im Widerspruch zum Grundgesetz, dessen Artikel 3 bestimmt, dass niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt werden darf. Darüber setzten sich die Verfasser des Bundesentschädigungsgesetzes hinweg. Sie entschieden in Paragraph 6, dass von der Entschädigung ausgeschlossen ist, „wer nach dem 23.5.1949 die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat.“ Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft.

Die Bestimmung richtete sich hauptsächlich gegen Kommunisten, die ihre Weltanschauung, deretwegen sie von den Nazis verfolgt worden sind, nicht aufgeben wollten und sich weiterhin politisch betätigten. Einer von ihnen war der erste Nachkriegsoberbürgermeister von Essen, Heinz Renner. Auf seinen Fall, der ein Stück Nachkriegsgeschichte verkörpert, bin ich jetzt in meinem Archiv gestoßen. Dort fand ich einen Zeitungsartikel vom September 1959 wonach Heinz Renner, ohne jemals rechtskräftig verurteilt worden zu sein, Entschädigungsleistungen in Höhe von 27.383,60 DM zurückzahlen musste und von weiteren Leistungen ausgeschlossen wurde. Bezogen hatte er diese Leistungen völlig zu Recht.

Als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, musste sich der Vollblutpolitiker in Sicherheit bringen. Er emigrierte nach Frankreich und arbeitete dort als Generalsekretär der Fédération Immigrés d‘Allemagne en France, einer überparteilichen Hilfsorganisation, die sich um politische Flüchtlinge kümmerte. Er wurde in der Folgzeit an die deutsche Gestapo ausgeliefert und durch zahlreiche Gefängnisse geschleust. Auf dem Weg ins KZ Dachau erkrankte er und wurde von französischen Soldaten befreit.

Die Alliierten beriefen Heinz Renner 1946 für kurze Zeit zum Oberbürgermeister von Essen. Abgelöst wurde er bei der ersten Kommunalwahl nach dem Krieg von Gustav Heinemann, damals CDU. Anschließend war Renner Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtages, Sozial- und Verkehrsminister in der Landesregierung unter Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) und danach Mitglied des ersten Deutschen Bundestages, wo er mit mehr als 400 Redebeiträgen zu den häufigsten Debattenrednern der ersten Legislaturperiode gehörte. Über seine weitere politische Tätigkeit heißt es im Bescheid der Landesrentenbehörde von Nordrhein-Westfalen vom 31. Januar 1959 über die Aberkennung seiner Entschädigungsrente:

„Nach den getroffenen Feststellungen sind Sie in der Zeit nach dem 23.5.1949 als einer der maßgeblichsten Wortführer der durch Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.8.1956 für verfassungswidrig erklärten und daher verbotenen KPD publizistisch und in einer Fülle von öffentlichen und parteiinternen Veranstaltungen in Erscheinung getreten. Ihre Funktionärstätigkeit innerhalb der KPD gab verschiedentlich Anlass zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren. Obwohl eine rechtskräftige Verurteilung bisher nicht erfolgt ist, kann es nach dem gegebenen Sachverhalt keinem Zweifel unterliegen, dass Sie als führender Funktionär der KPD die auf die Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung gerichteten Bestrebungen dieser Partei maßgeblich gefördert haben. Der festgestellte Betrag von 27.383,60 DM ist umgehend der Regierungshauptkasse in Düsseldorf unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen.“

Damit war Heinz Renner mittellos, und es nutzte ihm wenig, dass alle, die ihn kannten, nur Gutes über ihn zu sagen wussten, so etwa der Essener Ratsherr Heinrich Strunk, der bei der Verabschiedung Renners aus dem Amt des ersten Nachkriegsoberbürgermeisters am 30. Oktober 1946 sagte: „Im Einvernehmen mit allen Fraktionen unserer Stadtvertretung habe ich Ihnen in dieser Stunde einige Worte des Dankes und der Anerkennung zu sagen. Die Zeit Ihrer Amtsführung war kurz, aber inhaltsvoll und wird von nachhaltiger Wirksamkeit sein. Neben den großen Tagesnöten der Ernährung und des Wohnens war Ihr Interesse ganz besonders der demokratischen Neuordnung unserer Stadtvertretung gewidmet. Essen ist unter Ihrer Führung beispielgebend mit seiner neuen Stadtverfassung.“ Als Renner aus dem Amt des Verkehrsministers von Nordhrein-Westfalen ausschied, schrieb ihm Ministerpräsident Karl Arnold am 7. Februar 1948: „Diese gegen meinen Willen getroffene Entscheidung beeinflusst in keiner Weise die Wertschätzung, die ich Ihrer Person gegenüber empfinde.“

Ein Jahr nachdem ihm 1959 die Entschädigungsrente aberkannt worden war, übersiedelte Heinz Renner in die DDR, wo er am 11. Januar 1964 im Alter von 72 Jahren in einem Krankenhaus verstarb. Die Urne mit seiner Asche wurde auf dem Essener Südwestfriedhof bestattet. An der Trauerfeier nahmen 4000 Menschen teil, und eine Bergmannskapelle spielte Chopins Trauermarsch. Vertreter der Stadt Essen waren nicht unter den Trauergästen. Später wurde die Ruhestätte in ein Ehrengrab umgewidmet. Damit werden Verstorbene geehrt, die sich zu Lebzeiten besondere Verdienste erworben haben. Die Vergabe und die Erhaltung derartiger Gräber erfolgt durch die öffentliche Hand. Im Essener Westviertel erinnert ein nach Heinz Renner benannter Platz an den ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt, dem man zwar seine Rente als Verfolgter des Naziregimes nehmen konnte, nicht aber seine Ehre und seine Menschenwürde.

Quelle: Weltexpresso, 14. Mai 2019

 


Warum kein ICE namens Anne Frank?

Über den Umgang mit Symbolgestalten der deutschen Geschichte

Conrad Taler

(Weltexpresso) – Unlängst hatte der Vorstand der Deutschen Bahn AG die Idee, den Zügen einer neuen ICE-Generation attraktive Namen zu verleihen, und zwar sollten sie nach Personen der Zeitgeschichte benannt werden. Vor nicht allzu langer Zeit hielt das der Vorstand für unpassend. Ab 2002 wurden sämtliche Personennamen von ICE-Zügen entfernt und durch Städtenamen ersetzt. Weichen mussten unter anderen die Namen Graf Stauffenberg und Sophie Scholl. Dafür wurden Züge zum Beispiel nach den Kleinstädten Oschatz und Jever benannt. Was sie dafür prädestinierte, blieb das Geheimnis der Bahn.

Bei der jetzigen Suche nach Taufpaten erhielt die Bahn nach eigenen Angaben von Kunden und engagierten Bürgern rund 19.400 Vorschläge sie wurden von einer Jury, in der auch zwei Historikerinnen saßen, intensiv geprüft und zunächst auf hundert Namen eingedampft. Übrig blieben am Ende die Namen von 25 Personen, die öffentlich benannt wurden. Darunter die Namen von Konrad Adenauer, Thomas Mann, Karl Marx, Vicco von Bülow und Anne Frank. Nach Darstellung der Bahn einte diese Personen, dass sie „neugierig auf die Welt“ gewesen seien. Ein Kriterium, das eher von Weltfremdheit denn von historischem Wissen zeugt, wenn man sich das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank vor Augen hält, das in einem Nazi-Konzentrationslager zu Tode kam.

Sarkastisch hieß es dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, mit deutschen Eisenbahnen verbinde Anne Frank nur, dass sie von ihnen „in die Hölle deportiert“ worden sei. Wenn es der Bahn darum gegangen wäre, ein Zeichen für die Mitverantwortung an der Ermordung der Juden zu setzen, hätte sich ein Name angeboten, der auf keiner der beiden Listen stehe. „Der Name eines Mannes, der wie kein zweiter die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen in der jungen Bundesrepublik vorantrieb und die Prozesse gegen NS-Schergen zugleich als einen historischen Akt der Aufklärung und Bildung betrachtete. Mit dem ICE ‚Fritz Bauer’ führe auch das Andenken an die Opfer der Shoa stets mit“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. November 2017).

Das richtete sich erkennbar nicht gegen Anne Frank, sondern gegen die Unbedarftheit der Beteiligten. Warum halten sie den Namen des Naziopfers Anne Frank für geeignet zur Benennung eines ICE, nachdem die Bahn den Namen eines anderen Naziopfers, nämlich den von Sophie Scholl, entfernt hat? Nicht diese Ungereimtheit sorgte indes für Aufregung, es war allein die Meldung, ein ICE solle nach Anne Frank benannt werden. Sie entfachte nach Schilderung der Süddeutschen Zeitung vom 9./10. Dezember 2017 einen “Shitstorm der allerersten Kategorie“. So nennt man das lawinenartige Auftreten negativer Kritik in sozialen Netzwerken. Kernpunkt der Kritik: Ein „Täterwerkzeug“ dürfe nicht nach dem Opfer benannt werden. Gemeint waren damit Züge der Bahn. Nach dieser Logik dürfte allerdings auch keine Schulen nach Anne Frank benannt werden, da Schulen während der NS-Zeit ebenfalls „Täterwerkzeuge“ waren. Sie lehrten den Hass auf die Juden und ebneten den Weg zu ihrer Ermordung.

Geschockt von dem Vorwurf, pietätlos gehandelt zu haben, erklärte der Bahnvorstand in einer offiziellen Verlautbarung, es sei in keiner Weise beabsichtigt gewesen, das Andenken Anne Franks zu beschädigen. Vielmehr habe die Deutsche Bahn die Erinnerung an sie wach halten wollen. Sollte die Bahn dabei Gefühle verletzt haben, „dann tut es ihr leid.“ Sie nehme die in der Öffentlichkeit geäußerten Bedenken ernst und werde sie in ihre internen Diskussionen einbeziehen. Auf ähnliche Weise rechtfertigte der Vorstand auch die Entfernung der Namen von Sophie Scholl und Graf Stauffenberg. Sie habe nichts mit einer „Nichtanerkennung dieser Personen“ zu tun, hieß es damals. Die Umbenennung sei aus Platzgründen notwendig gewesen, behauptete Hartmut Mehdorn allen Ernstes. In Wirklichkeit ging es um ganz Anderes. Bestimmte Namen, darunter auch die der deutschen Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky und Ludwigg Quidde, störten anscheinend den geplanten Gang der Bahn an die Börse. Schließlich geschah alles mit der politischen Rückendeckung durch den damaligen Verkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) unter oberster Verantwortung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Die deutsche Öffentlichkeit nahm den Skandal widerspruchslos hin und hat ihn bis heute nicht realisiert. Die aktuelle Aufregung um Anne Frank beweist das aufs Neue.

Siehe hierzu auch: Conrad Taler, „Namenszüge“, in: Ossietzky, 2 (2009), siehe den Artikel weiter unten auf dieser Seite. Zuerst veröffentlicht unter dem Pseudonym Constanze Weinberg in: Weltexpresso, Frankfurt am Main, 17. Dezember 2017

 


Julius Fučíks zweiter Tod

Büste des tschechischen Nationalhelden „beseitigt“

Bremen (Weltexpresso) Am 8. September jährt sich der Todestag des tschechischen Nationalhelden Julius Fučík, der wegen Widerstandes gegen die Besetzung seiner Heimat durch Nazi-Deutschland vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet wurde. Seine Reportage, unter dem Strang geschrieben, basierend auf Notizen aus der Haft, wurde in rund 90 Sprachen übersetzt und gehört zum Kanon der Weltliteratur. Dessen ungeachtet haben antikommunistische Eiferer in einem beispiellosen Akt des Vandalismus die Büste Julius Fučíks aus dem Pantheon des tschechischen Natio-nalmuseums entfernt. Kurt Nelhiebel, ein aus seiner böhmischen Heimat vertriebener Sudetendeutscher, schrieb deswegen den nachfolgend abgedruckten Brief an den tschechischen Kulturminister Daniel Herman, ehemals Sprecher der tschechischen Bischofskonferenz und seit Jahren Wegbereiter der Sudetendeutschen Landsmannschaft in der Tschechischen Republik. Die Redaktion

 

KURT NELHIEBEL – JULIUS FUČIKS ZWEITER TOD

Sehr geehrter Herr Minister,

vor kurzem habe ich erfahren, dass die Büste des tschechischen Widerstandskämpfers Julius Fučík aus dem Pantheon des Nationalmuseums in Prag entfernt worden ist. Wie der Museumsdirektor Michal Lukeš bekannt gab, wurde sie bereits 1991 beseitigt. Er sagte wirklich beseitigt, so als handle es sich um Abfall. Angeblich geschah das wegen Fučíks „ideeller Verbindung zum kommunistischen Regime“.

Fučík ist 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden, also fünf Jahre vor der Errichtung des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei. Er kann folglich weder eine ideelle noch sonst eine Verbindung zu diesem Regime gehabt haben. Richtig ist, dass er Mitglied der Kommunistischen Partei war. Dass seine Büste während des kommunistischen Regimes ins Nationalmuseum kam, rechtfertigt nicht ihre Entfernung. Sie ist ein Affront gegenüber allen Opfern des Naziregimes.
Julius Fučík gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des europäischen Widerstandes und genießt weltweit hohes Ansehen. Menschen wie er werden anderswo als Nationalhelden verehrt, so zum Beispiel der Widerstandskämpfer Jean Moulin in Frankreich und Manolis Glezos in Griechenland. Sollen die Tschechen Fučík nicht mehr ehren dürfen, weil ihn das kommunistische Regime für seine Zwecke benutzt hat?

Ich bin Atheist, verehre aber trotzdem Pater Delp, der wie Fučík in Berlin-Plötzensee hinge-richtet worden ist. Ich verehre auch Pastor Bonhoeffer, der ebenfalls von den Nazis ermordet wurde. Allein dass Fučík mit seiner Reportage, unter dem Strang geschrieben, die Weltöffentlichkeit über das Leid und den Freiheitskampf des tschechischen Volkes informiert hat, müsste ihm einen Platz im Nationalmuseums sichern. Als einzigartiges historisches Dokument ist das Werk Bestandteil der Weltliteratur.

Was die Entfernung der Büste Fučíks vollends unbegreiflich macht, sind die Begleitumstände. Im Gegenzug sollen nämlich die Büsten Kaiser Franz Josefs und seiner Gemahlin Elisabeth wieder im Pantheon des Nationalmuseums aufgestellt werden. Wie jedes Schulkind weiß, verkörpert das Herrscherpaar eine Epoche der Erniedrigung des tschechischen Volkes, eine Epoche zudem, die in den Ersten Weltkrieg einmündete. Als Regierungsmitglied wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die sudetendeutsche Landsmannschaft versucht, das Geschichtsbild des tschechischen Volkes zu beeinflussen. Hatte sie vielleicht ihre Hände im Spiel?

Es ist noch nicht lange her, dass der von Ihnen geschätzte Sprecher der sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, die Vertreibung der Deutschen als gezielten Völkermord bezeichnet hat. Damit stellte er das tschechische Volk auf eine Stufe mit den Mördern von Auschwitz. Bei der Abstimmung im Europäischen Parlament über die Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU stimmte er zusammen mit seinen Parteifreunden aus der bayerischen CSU mit Nein.

Es betrübt mich, dass manche das vergessen haben. Ich halte das für ein Zeichen der moralischen und politischen Desorientierung. Auch der Umgang mit Julius Fučík scheint mir Ausdruck dieser Desorientierung zu sein, ebenso die Kaltherzigkeit gegenüber Menschen in Not. Leute mit dicken Brieftaschen dürfen die tschechische Grenze ungehindert überqueren, für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika wird sie dicht gemacht.

Bitte sorgen Sie dafür, dass sich das ändert. Und lassen Sie die Büste Julius Fučíks dorthin zurückbringen, wo sie früher gestanden hat. Fučík ist für die Verbrechen des kommunistischen Regimes ebenso wenig verantwortlich, wie Sie als Christ für die Verbrechen der katholischen Kirche während der Kreuzzüge und der Inquisition.

Mit freundlichen Grüßen
Kurt Nelhiebel

Kultur- und Friedenspreisträger der Villa Ichon in Bremen

Der Brief von Kurt Nelhiebel erschien zusammen mit einem Artikel von Dr. Eva Hahn, „Antifaschismus in der Praxis“, in: Literární novíny, 10. Oktober 2017, der renommierten, seit neunzig Jahren bestehenden tschechischen Literatur Zeitung.

Quelle: Weltexpresso, Frankfurt am Main, 1. September 2017 (zuletzt abgerufen am 6.11.2017).

 


Prager Büstensturz

Zur Entfernung der Büste des tschechischen Widerstandskämpfers Julius Fučík aus dem Pantheon des Nationalmuseum

„Jetzt lacht Hitler in der Hölle“, vermerkt der amerikanische Außenminister George Shultz bissig in seinen Memoiren zum Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, wo sich neben Gräbern von Wehrmachtsangehörigen auch Gräber von Soldaten der Waffen-SS befinden. Das war 1985. Inzwischen hatte ein anderer Höllenbewohner Grund zum Lachen – Roland Freisler, der Vorsitzende des berüchtigten Volksgerichtshofes in Berlin. Antikommunistische Eiferer entfernten nämlich die Büste des von ihm zum Tode verurteilten tschechischen Widerstandskämpfers Julius Fučík aus dem Pantheon des Prager Nationalmuseums.

Wie soll man sich diesen Vandalenakt erklären und was hat es mit Julius Fučík auf sich? Ältere werden das noch wissen, Jüngere wohl kaum. Kurze Rückblende also: 1939 besetzte die deutsche Wehrmacht nach dem so genannten Sudetenland auch die verbliebenen Teile Böhmens und Mährens und stellte sie unter deutsches Protektorat. Zu denen, die sich dagegen wehrten, gehörte auch Julius Fučík. Anders als zum Beispiel die beiden ehemaligen Unteroffiziere der tschechischen Armee, Jan Kubiš und Jozef Gabčik, die 1942 ein Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich verübten, kämpfte der kommunistische Schöngeist, ein Neffe des gleichnamigen berühmten Komponisten Julius Fučík, mit Worten gegen die Fremdherrschaft. Er verfasste Flugblätter und verbreitete unter anderem das Zentralorgan der verbotenen KPČ.

Bei einer Razzia fiel er 1942 der Gestapo in die Hände und kam ins Gefängnis Prag-Pankrác. Der Volksgerichtshof unter Leitung von Roland Freisler verurteilte ihn zum Tode. Am 8. September 1943 wurde Julius Fučík in Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet. Während der Haft in Pankrác verfasste er, vermutlich in einer Vorahnung, seine Reportage unter dem Strang geschrieben (Reportáž psaná na oprátce. Hg. v. Gusta Fučíkova. 1945; deutsche Übersetzung: Reportage unter dem Strang geschrieben. Wien: Globus, 1946; Berlin: Dietz, 1947; Berlin: Volk und Welt, 1973; Bonn: Pahl-Rugenstein, 2000). Sie wurde in annähernd neunzig Sprachen übersetzt und ist das am häufigsten in fremde Sprachen übertragene Werk eines tschechischen Autors. Der letzte Satz lautet: „Menschen, ich hatte euch lieb, seid wachsam.“ Er steht heute auf vielen Gedenktafeln, so auch am Eingang des Ehrenhains Hamburger Widerstandskämpfer auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

KURT NELHIEBEL – JULIUS FUČIKS ZWEITER TOD

Verantwortlich für die Entfernung der Büste Fučíks aus dem Pantheon des tschechischen Nationalmuseums sind Kulturminister Daniel Herman von der Christlich-Demokratischen Union und der von ihm berufene Generaldirektor des Museums, Michal Lukeš. Von ihm erfuhr die Öffentlichkeit im Juni dieses Jahres eher beiläufig, dass die Büste bereits 1991 „beseitigt“ wurde. Angeblich geschah das wegen Fučíks ideeller Verbindung zum kommunistischen Regime. eine an den Haaren herbeigezogene Begründung, denn dieses Regime entstand erst 1948, fünf Jahre nach Fučíks Tod. Im Pantheon stand die Büste des tschechischen Kämpfers gegen den Faschismus seit 1964.

In jenem Jahr ehrten auch die Franzosen unter Staatspräsident Charles de Gaulle einen ihrer Nationalhelden, den von den Nazis ermordeten Résistance-Kämpfer Jean Moulin. Seine Urne wurde vom Pariser Friedhof Père Lachaise in das Pantheon überführt. Kulturminister André Malraux würdigte während einer feierlichen Zeremonie die Verdienste des Widerstandskämpfers. Seine Rede ist noch heute Gegenstand des Unterrichts in vielen französischen Schulen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy bat 2007 am Tag seines Amtsantritts den französischen Bildungsminister Xavier Darcos darum, in allen Schulklassen des Landes jeweils am Todestag des von den Nazis ermordeten 17jährigen kommunistischen Widerstandskämpfers Guy Môquet dessen letzten Brief an seine Eltern zu verlesen. 2015 wurden auf Anordnung des französischen Staatspräsidenten François Hollande am „Nationalen Tag der Résistance“ die sterblichen Überreste von vier weiteren herausragenden Persönlichkeiten der französischen Résistance ins Pantheon überführt.

Offensichtlich haben die Franzosen anderen Nationen etwas voraus. Die Entfernung der Büste von Julius Fučík aus dem Pantheon des Prager Nationalmuseums blieb ohne nennenswerten Widerspruch, eine Folge vermutlich des allgemeinen Missvergnügens am politischen Betrieb und der missbräuchlichen Verwendung des Begriffs Antifaschismus zu parteipolitischen Zwecken. Nutznießer der Desorientierung sind die Akteure einer unheiligen Allianz von Geschichtsrevisionisten auf tschechischer wie auf deutscher Seite, hier verkörpert durch die Sudetendeutsche Landsmannschaft mit ihren Wurzeln im braunen Sumpf, und auf der anderen Seite durch den ehemaligen Sprecher der tschechischen katholischen Bischofskonferenz und jetzigen Kulturminister Daniel Herman, der 2016 auf dem Sudetendeutschen Tag in Nürnberg als erstes Mitglied einer tschechischen Regierung den „lieben Landsleuten“ seine Aufwartung machte.

Quelle: Ossietzky, August 2017.

 


Was wollten die Männer des 20. Juli 1944?

Zum 15. Jahrestag des Attentats auf Hitler

Peter Nau

Vorbemerkung: Der nachstehende Artikel erschien zum ersten Mal am 18. Juli 1959 in der Frankfurter Wochenzeitung der deutschen Widerstandsbewegung Die Tat. Unter seinem damaligen nom de guerre Peter Nau beleuchtet der Verfasser darin die Ziele der Attentäter und ihre wenig beachteten Kontakte zum Widerstand aus den Reihen der Arbeiterschaft. 58 Jahre später hat er nichts von seiner Aussagekraft verloren. – Die Redaktion

„Die Geschichte der Bestrebungen und Ereignisse, die sich zum 20. Juli des Jahres 1944 auf die unglücklichste Weise zusammenballten und entluden, ist eine weit verzweigte.“ Dieser Satz des katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider aus seinem 1947 erschienenen „Gedenkwort zum 20. Juli“ lässt erkennen, dass es nicht leicht ist, alle Ursachen und Zusammenhänge der Geschehnisse um den 20. Juli zu erforschen und zu bewerten. Ein Pauschalurteil kann vollends nicht gefällt werden. Reinhold Schneider sagt über die Beteiligten an der Verschwörung: „So verschieden die Männer waren, so verschieden waren wohl ihre Hoffnungen, ihre Ziele . . . Viele von ihnen hatten geholfen, den Mächtigen zu stärken, mit der fragwürdigen Gloriole seiner Siege zu schmücken.“

An den Ausgangspunkt der Betrachtungen gehört die Frage, welches äußere Bild die Lage in jenem Sommer des Jahres 1944 darbot. Etwa fünf Jahre nach Kriegsbeginn lagen die meisten deutschen Städte in Trümmern. Täglich starben Tausende im Hagel der Bomben, erstickten in Luftschutzkellern oder verbrannten im Phosphorregen. Tausende erlagen den entsetzlichen Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern oder erlitten einen qualvollen Tod in den Gaskammern und Folterhöhlen der SS und Gestapo. Deutschland schien zu einem einzigen Friedhof zu werden. Die Lage an den Fronten kündete vom nahen Ende des nationalsozialistischen Schreckensregimentes. Im Osten war die Heeresgruppe Mitte unter den Schlägen der vorrückenden sowjetischen Einheiten zusammengebrochen, im Westen hatten die Alliierten – spät aber doch – die zweite Front eröffnet und mit ihren Landoperationen begonnen.

Das von den Widerstandskämpfern lange vorhergesagte Ende zeichnete sich ab. Nur wer mit Blindheit geschlagen war, konnte noch auf einen Erfolg Hitlerdeutschlands hoffen. In dieser Situation hielten es auch manche Generale für angebracht, ihre seit Stalingrad bestehenden Bedenken gegen die „Kriegskunst“ Hitlers offener auszusprechen, als sie es vorher gewagt hatten. Bei den Differenzen zwischen ihnen und dem „obersten Feldherrn“ ging es jedoch weniger darum, die einzig mögliche Konsequenz aus der entstandenen Lage zu ziehen, nämlich den Krieg zu beenden, als vielmehr darum, die Leitung der militärischen Operationen zu v erbessern, um entweder die Kriegsziele zu erreichen, oder zumindest die Situation zu stabilisieren.

Das Attentat war überfällig

In seiner „Geschichte des zweiten Weltkriegs“ schreibt General von Tippelskirch zu Beginn des Kapitels über den 20.Juli: „Seit der Katastrophe von Stalingrad hat sich die ganze innere Auflehnung gegen die Grundsätze, nach denen Hitler die Operationen führte, in denjenigen Kreisen des Offizierskorps des Heeres, die einen tieferen Einblick in die Zusammenhänge besaßen, nicht mehr gelegt.“ Über den Zeitpunkt des Attentates vom 20. Juli schrieb Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, der seinerzeit in Verbindung mit Widerstandsgruppen stand, am 20. Juli 1954 in der Hamburger Zeitung „Die Welt“: „Im Anblick der ungeheuren Blutopfer an den Fronten und in den Städten in der Heimat, in den Konzentrationslagern und ihren Gasöfen war die Tat, die Tat um jeden Preis, längst überfällig.“ Gerstenmaier sprach damit aus, was viele Widerstandskämpfer angesichts der späten Aktion damals empfanden.

Zum Verständnis für die Schwierigkeiten, denen sich die unmittelbar an dem Attentat Beteiligten, wie die gesamte Widerstandsbewegung mit ihren vielen kleinen Gruppen gegenübersahen, muss darauf hingewiesen werden, dass der Terror des Naziregimes gegen Andersdenkende zu jener Zeit nahezu unvorstellbare Ausmaße angenommen hatte. Nach Angaben des damaligen Reichsjustizministers Thierack, die allerdings kaum als vollständig angesehen werden können, wurden im Jahr 1944 binnen drei Monaten nicht weniger als 176. 670 Personen aus politischen Gründen verhaftet. Dieser Terror erschwerte naturgemäß alle Widerstandshandlungen.

Mangelnde Verbindung zum Volk

Die Existenz ungezählter Widerstandsgruppen vornehmlich in Arbeiterkreisen aber auch in Kreisen des Bürgertums, der Intellektuellen und des kirchlichen Lebens sowie die seit Beginn der Terrorherrschaft nie abgerissenen Widerstandshandlungen dieser Gruppen machen deutlich, dass der entschlossene Wille ungebrochener Antifaschisten auch dem größten Druck des menschenfeindlichen Regimes zu trotzen verstand. In dieser Beziehung sind die objektiven Schwierigkeiten, denen sich die Verschwörer des 20.Juli gegenübersahen, tatsächlich nur relativ zu bewerten.

Diese Schwierigkeiten hätten zudem noch herabgemindert werden können, wenn die opponierenden Offiziere und Generale erkannt hätten, dass ein erfolgreicher Schlag gegen das Tyrannenregime nur möglich war in enger Verbindung mit den Widerstandsgruppen draußen im Land und auf diese Weise mit wichtigen Schichten des Volkes. Leider gab es bei den Männern des 20. Juli Kräfte, die eine solche Verbindung ablehnten. Sie taten es nicht aus Gründen der Sicherheit, sondern weil sie befürchteten, dass eine Einbeziehung der aus der Arbeiterbewegung stammenden Widerstandsgruppen der Aktion eine Richtung geben könnte, die ihren politischen und militärischen sowie wirtschaftlichen Vorstellungen zuwiderlief. Andererseits bestanden – man möchte sagen, natürlicherweise – bei vielen Widerstandsgruppen in Betrieben und Wohnblocks Ressentiments gegenüber der Generalität, die über viele Jahre hinweg treue Anhänger Hitlers in ihren Reihen vereinte und die militärischen Abenteuer des Diktators überhaupt erst hatten möglich werden lassen.

„ . . .selbst mit dem Teufel“

Trotz dieser Vorbehalte gab es vereinzelte Verbindungen zwischen Angehörigen des Kreises 20.Juli und kommunistischen Widerstandsgruppen. Rudolf Pechel berichtet in seinem Buch „Deutscher Widerstand“ (1947) über die Entschlossenheit kommunistischer Widerstandskämpfer, auf Grund der damaligen Lage such mit der Generalität gegen Hitler vorzugehen. Am 29. Juni 1944 führte Pechels Frau ein Gespräch mit dem Kommunisten Franz Jacob, der sich wie folgt äußerte: „Jetzt ist es soweit, dass wir selbst mit dem Teufel, sprich der Generalität, einen Pakt schließen und gemeinsam einen Staatsstreich machen.“ Dieser Pakt kam aber nicht zustande, weil auf der Gegenseite die Bereitschaft dazu fehlte.

Es war indes nicht nur die fehlende Verbindung zu breiteren Volkskreisen, die einen Plan zur Wendung der Geschicke von vornherein wenig aussichtsreich erscheinen ließ. Die an der Vorbereitung des Attentats beteiligten Offiziere und Generale, die im Dienst Hitlers bei militärischen Angriffsoperationen ein nicht geringes Maß an Fähigkeiten gezeigt hatten, legten bei der Planung des Anschlages auf Hitler und den danach vorgesehenen Aktionen einen ausgesprochenen Dilettantismus an den Tag. Sie konzentrierten alles auf einen Mann, den Obersten Graf Claus von Stauffenberg. Bei ihm liefen in Berlin alle Fäden zusammen. Er hätte während des Attentats auf Hitler in Berlin zur Verfügung stehen müssen. Stattdessen wurde er mit dem Flugzeug nach Rastenburg geschickt, um in der „Wolfsschanze“, Hitlers Hauptquartier, selbst das Attentat durchzuführen. Stauffenberg, der einen Arm und drei Finger der rechten Hand verloren hatte und zudem auf einem Auge erblindet war, hätte sich im Notfall nicht einmal mit einer Pistole verteidigen können.

Verschiedentlich wird geäußert, niemand anders als Stauffenberg hätte Zugang zu Hitlers Besprechungsraum gefunden, wo die Bombe mit dem Zeitzünder niedergelegt werden sollte. Angesichts der entscheidenden Wichtigkeit des Anschlages auf Hitler kann dieses Argument nicht überzeugen. Es ist beschämend für die Mitverschwörer, dass sie dem schwergeprüften und seiner Kampffähigkeit beraubten Stauffenberg die Doppelrolle aufbürdeten, das Attentat auszuführen und sofort nach Berlin zurückzukehren, um dort das Kommando der Verschwörung zu übernehmen.

Dass der persönlich tapfere und entschlossene Stauffenberg die Einsatzbereitschaft und den Mut besaß, diese Doppelrolle zu übernehmen, gereicht ihm zur hohen Ehre. In seinem Buch „Der 20. Juli“ (Wedding-Verlag. Berlin 1946) stellt auch Dr. Franz Reuter, der an den Plänen zur Beseitigung Hitlers beteiligt war und sich am Tage des Attentats im Hauptquartier aufhielt, die Frage, ob Stauffenbergs Einsatz zweckmäßig war. Er schreibt: „Fand sich kein besser gestellter Attentäter, konnten und mussten überhaupt die äußeren Umstände nicht so gestaltet werden, dass er Erfolg auf keinen Fall ausblieb? Die Frage stellen, heißt sie bejahen.“

Stauffenbergs Rolle

Stauffenberg kehrte in dem Glauben nach Berlin zurück, das Attentat sei geglückt. Die Meldung über den Fehlschlag hatte dort inzwischen die Unsicherheit im inneren Kreis der Verschwörer verstärkt. Über die unter ihnen seit langem herrschende Stimmung bekannte der zu ihrem Kreis gehörende General Fromm bereits am 20. 2. 1943 in seinem Tagebuch: „Der eine will handeln, wenn er Befehl erhält, der andere befehlen, wenn gehandelt ist . . .“ Da es der Chef des Nachrichtenwesens, der in die Attentatspläne eingeweihte General Fellgiebel nicht vermochte, die „Wolfsschanze“ wie vorgesehen von der Verbindung zur Außenwelt abzuschneiden, konnte die Kamarilla um Hitler unverzüglich Gegenmaßnahmen einleiten.

Kritisch äußert sich auch Dr. Franz Reuter in seinem Buch über das Verhalten der Verschwörer: „Auch nach dem Misslingen des Attentates brauchte nicht alles verloren zu sein, wenn die weitere Durchführung besser vorbereitet, oder richtiger gesagt – die militärischen Vorbereitungen waren jedenfalls sehr umfangreich – nicht zu einseitig auf den Tod Hitlers abgestellt gewesen und nach dem Misserfolg ein anderer hoher Offizier vor die Front gesprungen wäre. Dass Letzteres nicht geschah, wird immer unbegreiflich bleiben.“ Über den entscheidenden Punkt des „Fehlschlages“ schreibt Reuter: „Im tiefsten Grund ist der 20. Juli misslungen, weil die Generale sich viel zu spät und zu wenig entschieden und umfangreich hinter die Zivilisten gestellt haben. Immer wieder haben sie Ausreden aus der jeweiligen Situation gehabt.“

Tatsächlich hatten die Verschwörer Vertrauensleute und Anhänger in vielen ausschlaggebenden Kommandostellen der Wehrmacht, in der Spionage und Abwehr, ja sogar in Dienststellen der SS und Gestapo. Sie verfügten somit über eine große Anzahl von Waffen, aber vor dem offenen Kampf schreckten sie zurück, wobei – wie bereits ausgeführt – der entscheidende Mangel das Fehlen einer engen Beziehung zu den im Volk verwurzelten Widerstandsgruppen und zum Volk überhaupt war.

Die Pläne der Verschwörer

Bleibt die Frage, welche Ziele die Verschwörer anstrebten. Günther Weisenborn schreibt in dem Buch „Der lautlose Aufstand“, dass über die Frage der Berechtigung des von den Verschwörern eingeschlagenen Weges, einen Staatsstreich von oben zu versuchen, statt von unten die Opposition der Massen zu aktivieren, in Widerstandskreisen viel diskutiert worden ist. Es liegt eine Reihe von Äußerungen vor, wonach es verschiedenen Teilnehmern der Verschwörung nicht darum ging, mit dem Kriegswahnsinn Schluss zu machen, sondern ein Arrangement mit den westlichen Alliierten zu suchen, um dort Kräfte für eine Niederringung der Sowjetunion zu mobilisieren. „Das Hauptmotiv für ihre Aktionen“, so schreibt Allen W. Dulles in seinem Buch „Verschwörung in Deutschland“ auf Seite 170, „ist der glühende Wunsch, Zentraleuropa davor zu bewahren, ideologisch und faktisch unter russische Herrschaft zu kommen.“ Weiter heißt es: „Anfang Mai 1944 bekam Gisevius aus Berlin einen Plan…Der Hauptinhalt des Planes war, dass die antinazistischen Generale den amerikanischen und britischen Truppen den Weg für die Besetzung Deutschlands frei machen und gleichzeitig die Russen an der Ostfront festhalten würden.“

Aus dem von Goerdeler im Fall des Gelingens des Attentates für die Presse bestimmten „Aufruf an das deutsche Volk“ geht hervor, dass möglicherweise nicht einmal an einen sofortigen Rückzug der deutschen Truppen aus den völlig zu Unrecht überfallenen und besetzten Ländern gedacht war. Auch die Frage, ob die generelle Einstellung des Krieges geplant war, bleibt in dem Aufruf offen. Es heißt nämlich darin: „Unsere erste Aufgabe wird sein, den Krieg von seinen Entartungen zu reinigen.“ Es sollte dafür gesorgt werden, „dass, soweit zur Zeit noch fremde Gebiete besetzt gehalten werden müssen, den Betroffenen die volle Selbstregierung wieder ermöglicht und die Anwesenheit deutscher Truppen so wenig lastend wie möglich gemacht wird.“

(Anmerkung: Allen W. Dulles, ehemals Direktor des amerikanischen Geheimdienstes CIA; Hans Bernd Gisevius war Verbindungsmann der Widerstandsgruppe um Generaloberst Beck zum US-Geheimdienst. Carl Friedrich Goerdeler sollte nach der Beseitigung Hitlers das Amt des Reichskanzlers übernehmen. K.N.)

Einseitige Orientierung

Der schon genannte Franz Reuter schreibt zu den außenpolitischen Absichten der Verschwörer des 20. Juli: „Was die eminent wichtige Frage der Außenpolitik angeht, so hoffte man ganz überwiegend, zunächst mit den angelsächsischen Mächten zu Rande zu kommen. Man wollte aber auch gleichzeitig den Krieg im Osten beenden, nur dass man mehr, wenn auch keineswegs ausschließlich, Sympathie und Anknüpfungsmöglichkeiten nach dem Westen hatte… Der als Außenminister in Aussicht genommene ehemalige römische Botschafter von Hassel, Schwiegersohn des Großadmirals Tirpitz, stand mit seinem Gefühl dem Westen nahe.“ Der nachfolgende Satz Reuters lässt darauf schließen, dass verschiedene Mitverschwörer an ein Konzept dachten, das sich in außenpolitischer Hinsicht von dem der NS-Regierung nur graduell unterschied. Er schreibt: „Ich selbst habe frühzeitig die Auffassung vertreten, dass der Anstoß für eine kühne oder ungewöhnliche Außenpolitik von jemand anderem (als von Hassel) hätte ausgehen müssen.“

Eine Bestätigung für die im Kreis der Verschwörer gehegte Absicht, mit dem Westen gegen den Osten zu paktieren und zu kämpfen liegt in folgender Mitteilung Reuters: „Ich selbst habe frühzeitig den Standpunkt vertreten, dass mit einer Entzweiung zwischen den angelsächsischen Mächten und Russland vor der siegreichen Beendigung des Krieges nie zu rechnen sei…“ Danach haben solche Spekulationen bei verschiedenen Angehörigen des Kreises 20. Juli zweifellos eine Rolle gespielt und sie in dem Gedanken bestärkt, das Kriegsgeschick mit Hilfe westlicher Panzer und Kanonen in einer Weise zu wenden, die möglicherweise den Ambitionen der Generale, nicht aber den Interessen des von den Folgen der verflossenen Kriegsjahre schwer getroffenen Volkes entsprochen hätte.

Dass es Absichten dieser Art gab, spricht indessen nicht gegen jene Verschwörer, die sich ehrlich und mit höchstem persönlichen Mut für die Interessen des Volkes einsetzten und Tapferkeit bis zum Tod bewiesen. Unter ihnen befanden sich Männer, die die Volkskräfte bei der Beseitigung des Naziregimes nicht ausschalten wollten und die – wie Graf Stauffenberg und Adam Trott – Verbindung zu aktiven Widerstandsgruppen hatten und für ein Bündnis mit ihnen eintraten

Das Verdienst anderer Widerstandskreise

Nach allem was über den 20. Juli bekannt geworden ist, muss gesagt werden, dass – unter Zugrundelegung der Volksinteressen und der Ideale der Widerstandsbewegung – die an jenem Tag wirksam bzw. nicht wirksam gewordenen Kräfte positive und negative Elemente vereinten. Die Vorgänge um den 20. Juli sind als Widerstandshandlung gegen ein barbarisches Regime in die Geschichte eingegangen und verdienen eine entsprechende Würdigung.

Verfehlt wäre es jedoch, diese Tat als die einzig erwähnenswerte Widerstandshandlung zu betrachten. Schon lange bevor der Kreis um den 20. Juli die Notwendigkeit von Abwehrmaßnahmen erkannt hatte, waren Widerstandskämpfer für die Beseitigung des Naziregimes eingetreten. Um der geschichtlichen Wahrheit willen muss gesagt werden, dass es sich hier vornehmlich um Kommunisten und Sozialdemokraten handelte. Wegen ihres unerschrockenen Kampfes wurden ungezählte auf barbarische Weise ermordet. Die Tragik ihres Opfers liegt darin, dass sie nicht rechtzeitig zum gemeinsamen Handeln zusammenfanden.

Trotz aller Vorbehalte im Hinblick auf den 20. Juli wehren sich die überlebenden Widerstandskämpfer entschieden dagegen, die Verdienste der positiven Kräfte des 20. Juli wie überhaupt die Widerstandsbewegung herabzuwürdigen. Ihr Ansehen und ihre Ehre gilt es gegen alle zu verteidigen, die durch die politische Entwicklung in der Bundesrepublik und das Wiedererstarken militaristischer Kräfte dazu ermuntert werden, sie als „Landesverräter“ zu verdächtigen und ihre edlen Motive in Frage zu stellen. Was die Versuche des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Heusinger, angeht, sich vor die Männer des 20. Juli zu stellen, so hätte er besser daran getan, sich 1944 zu ihnen zu bekennen!

Quelle: Die Tat, 18. Juli 1959.

 


Tausendmal vergessen

Was es mit dem Breitscheidplatz in Berlin auf sich hat

Ob ihnen der Name Breitscheid etwas sage, fragte ich neulich im Supermarkt einige Kunden. Zwei sahen mich verständnislos an, der dritte stutzte und meinte dann, ja, das sei doch der vom Weihnachtsmarkt neulich in Berlin. Da gab ich es auf. Weit davon entfernt, die Umfrage als repräsentativ zu betrachten, frage ich mich seither, ob unseren Medien bei der Berichterstattung über den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt entgangen ist, dass der Ort des Geschehens, also der Breitscheidplatz, an ein dunkles Kapitel der deutschen Vergangenheit erinnert. Er ist nämlich nach dem sozialdemokratischen Politiker Rudolf Breitscheid benannt, einem der prominentesten Opfer des Verfolgungswahns der nationalsozialistischen Machthaber. Hundert- oder vielleicht tausendmal tauchte der Breitscheidplatz nach dem 19. Dezember in den Nachrichten auf, ohne dass jemals auf den Ursprung des Namens hingewiesen worden wäre.

Dabei wird doch behauptet, kein europäisches Land habe seine Vergangenheit so vorbildlich aufgearbeitet wie Deutschland. Tatsächlich wurden in zahlreichen Städten und Gemeinden Straßen und Plätze nach Rudolf Breitscheid benannt. Auf Bundesebene hingegen geschah wenig oder nichts zur Erinnerung an den namhaften Sozialdemokraten. Anders als in der DDR wurde in der Bundesrepublik keine einzige Briefmarke mit dem Konterfei Rudolf Breitscheids aufgelegt. Diese Ehre widerfuhr zwar der glühenden Hitler-Verehrerin Agnes Miegel, nicht aber dem von den Nazis vertriebenen Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag Rudolf Breitscheid.

Als außenpolitischer Sprecher seiner Partei hatte sich Breitscheid bereits vor der Machtübernahme durch die Nazis deren Hass zugezogen. Um der Verhaftung zu entgehen musste er Deutschland im März 1933verlassen. Er emigrierte zunächst in die Schweiz und vor aus nach Frankreich. Dort spielte er eine maßgebliche Rolle bei der Sammlung der in zahlreiche Gruppen zersplitterten deutschen Opposition. Erstmals fanden sich Kommunisten, Sozialdemokraten, Revolutionäre Sozialisten, Vertreter der Sozialistischen Arbeiterpartei, emigrierte Schriftsteller und Exponenten der bürgerlichen Opposition zum gemeinsamen Kampf gegen Hitler bereit.

Im Juli 1935 konstituierte sich ein Vorläufiger Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront. Die weiteren Vorbereitungen wurden einer Kommission übertragen, der von sozialdemokratischer Seite Rudolf Breitscheid und der saarländische SPD-Chef Max Braun angehörten, während die Kommunisten durch Willi Münzenberg und Herbert Wehner vertreten waren. (Lexikon des deutschen Widerstandes, S. Fischer 1994, S. 172 f.) Das Vorhaben scheiterte am Ende an unterschiedlichen politischen Vorstellungen. Immerhin erreichte Breitscheid im September 1938, dass die „Zentralvereinigung deutscher Emigranten“ vom Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen, als offizielle Vertretung deutscher Flüchtlinge anerkannt wurde.

Nach dem Angriff der Armeen Hitlers auf Frankreich floh Breitscheid in den unbesetzten Süden des Landes. Dort wurde er verraten und am 11. Februar 1941 von den Behörden der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung an die Geheime Staatspolizei des Deutschen Reiches ausgeliefert wird. Zehn Monate verbrachte er zunächst im Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, ehe er zusammen mit seiner Frau in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert wurde. Von dort aus verbrachte man ihn im September 1943 nach Buchenwald, wo er zusammen mit seiner Frau in einer streng bewachten Baracke außerhalb des eigentlichen Konzentrationslagers interniert wurde.

Bei einem alliierten Luftangriff auf einen benachbarten Rüstungsbetrieb wurde Breitscheid am 24. August 144 verschüttet und nach Angaben von Mitgefangenen tot aufgefunden. Seine Frau konnte schwer verletzt geborgen werden. Rudolf Breitscheids Grab befindet sich auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf bei Berlin. In der Berliner Gedenkstätte der Sozialisten ist sein Name auf einer Gedenkplatte im zentralen Rondell verzeichnet.

Quelle: Weltexpresso, Frankfurt am Main, 29. Dezember 2016

 


Maximilian Kolbe oder das Schweigen am Abrund

Zum Besuch des Papstes in Auschwitz

Es ist ein Bild, das die Zeit überdauern wird, wie das Bild, auf dem Willy Brandt in Warschau vor dem Denkmal für die Opfer des Ghetto-Aufstandes kniet: Papst Franziskus schweigend in der Todeszelle des Franziskanerpaters Maximilian Kolbe. Millionen Menschen waren einst gerührt von der Geste der Demut des deutschen Bundeskanzlers, so wie sie jetzt gerührt sind von dem Satz des Papstes, er wolle Auschwitz „in Schweigen, stillem Gebet und – und so Gott mir die Gnade der Tränen gibt – weinend“ besuchen.

„Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe“, schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen. Seine Antwort knapp zwanzig Jahre später: „Am Abgrund der deutschen Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Papst Franziskus hatte sich das Schweigen von vornherein auferlegt. Er küsste den Betonboden der düsteren Zelle, in der Maximilian Kolbe starb, und schrieb in das Gästebuch: „Herr, erbarme dich deines Volkes, Herr, vergib so viel Grausamkeit.“

Was hatte der Franziskanerpater „verbrochen“, dass er als politischer Häftling nach Auschwitz geriet? Die Gestapo, die deutsche Geheimpolizei, hatte ihn zweimal festgenommen, weil er Verfolgten Zuflucht gewährte. Als die SS-Wachmannschaft am 31. Juli 1941 einen Häftling vermisste, wählte sie willkürlich zehn Häftlinge aus, die zur Strafe im berüchtigten Block 11 des Stammlagers verhungern und verdursten sollten. Verzweifelt flehte einer von ihnen um Gnade für sich, seine Frau und seine beiden Kinder. Aber die SS-Leute blieben hart. Da erbot sich Maximilian Kolbe, an seiner Stelle in den Todesbunker zu gehen.

Dort betete er mit den Opfern und sprach ihnen Mut zu. Nach zwei Wochen lebten nur noch vier Gefangene, darunter Maximilian Kolbe. Sie wurden durch eine Injektion mit giftigem Phenol in den Herzmuskel ermordet, eine in Auschwitz übliche Methode, kranke und nicht mehr arbeitsfähige Lagerinsassen zu töten. Einen der so genannten „Phenolspezialisten“ habe ich im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Angeklagten erlebt: Den SS-Sanitäter Josef Klehr. Auch nach so langer Zeit kam kein menschliches Wort über seine Lippen, weder ein Wort des Bedauerns über sein damaliges Verhalten, noch ein Wort des Mitleids mit den Opfern. Wegen Mordes in mindestens 475 Fällen wurde er zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

Das Aberwitzige des Verbrechens, das an den zehn Menschen begangenen wurde, die wegen der vermeintlichen Flucht eines Mitgefangenen sterben mussten, zeigte sich im Nachhinein: Der vermisste Häftling war überhaupt nicht geflohen, sondern irgendwo im Lager gestorben, ohne dass seine Leiche gleich entdeckt wurde. Der polnische Familienvater Franciszek Gajowniczek, für den Maximilian Kolbe in den Tod gegangen ist, überlebte Auschwitz. Er nahm 1982 an der Zeremonie zur Heiligsprechung des Franziskanerpaters als Märtyrer durch Papst Johannes Paul II. teil.

Am Portal der Westminster Abbey in London wurde Maximilian Kolbe in die Reihe der zehn Märtyrer des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Einige Schulen tragen in Deutschland seinen Namen. Rolf Hochhuth widmete ihm sein Drama „Der Stellvertreter“, in dem es um die Mitschuld der katholischen Kirche an den Naziverbrechen geht. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen spielt Maximilian Kolbe, der einen deutschen Vater hatte, keine Rolle, es sei denn, das Bild des betenden Papstes Franziskus in der Auschwitzer Todeszelle seines Glaubensbruders änderte etwas daran.

August 2016

 


Fallgruben politisch motivierten Erinnerns

Anmerkungen zum Gedenktag für die Opfer aller totalitären Regime

KURT NELHIEBEL – FALLGRUBEN POLITISCH MOTIVIERTEN ERINNERNS

Ein Akt „kollektiver Verrücktheit“ (1) liegt dem Aufruf des Europäischen Parlaments, den 23. August zum „europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ zu erklären, sicher nicht zugrunde, ein Akt kollektiver Weisheit ist er aber auch nicht. Immerhin erkannten die Akteure, dass ihr Vorhaben die Beziehungen zu Russland trüben könnte. Die entsprechende Resolution des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 enthält im Gegensatz zum Entschließungsantrag nicht den Hinweis, dass es sich beim 23. August um den Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von 1939 handelt. Eingereicht hatten den Antrag im Namen ihrer Fraktion zehn Abgeordnete der Europäischen Volkspartei und der Europäischen Demokraten (EVP-ED), unter ihnen der CSU-Politiker und Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, der die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg für einen „gezielten Völkermord“ (2) hält. Im Entwurf hieß es, alle Regierungen in der EU sollten „den 23. August, den Tag der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Vertrages im Jahre 1939 als Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ festlegen.

Seit Bundespräsident Roman Herzog 1996 den 27. Januar, „den Tag der Befreiung von Auschwitz, mit Zustimmung aller Parteien zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt hat, (3) bestand deutscherseits eigentlich kein Bedarf an einem weiteren Gedenktag für die Opfer des Naziterrors. Gleichwohl folgte der Deutsche Bundestag 2013 der Empfehlung des EU-Parlaments, ohne den 23. August allerdings in den Rang eines nationalen Gedenk- oder Feiertages zu erheben. Als solche gelten nach Angaben der Protokollabteilung Inland der Bundesregierung der 3. Oktober, der 27. Januar und der 17. Juni. Weitere Gedenktage, die bei der Repräsentation des Staates eine wichtige Rolle spielen, seien der 20. Juli und der Volkstrauertag. (4) Auch aus europäischer Sicht bestand keine Veranlassung, einen weiteren Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus einzurichten. Seit 2006 wird der 27. Januar weltweit, also auch in Europa, als „Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ begangen. (5) Hinzu kommt, dass das EU-Parlament 1993 dazu aufgerufen hat, die ehemaligen NS-Konzentrationslager angesichts ihrer geschichtlichen Bedeutung unter europäischen und internationalen Schutz zu stellen und „jede willkürliche Verquickung zwischen der Realität der nationalsozialistischen Lager und ihrer etwaigen Nutzung nach dem Krieg“ zu vermeiden. (6) …

Anmerkungen

(1) Stefan Kornelius zum inneramerikanischen Streit um die Zahlungsfähigkeit des Landes, Süddeutsche Zeitung, 18. Oktober 2013, S. 4, „Zeit der Häutung“.
(2) Riesengebirgsheimat, Nürnberg: Helmut Preußler Verlag, Ausgabe Januar 2006, S. 4.
(3) Ansprache des Bundespräsidenten Roman Herzog im Bundestag am 19. Januar 1996.
(4) Mitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 20. September 2013.
(5) Resolution der UN-Generalversammlung 60/7 vom 1. November 2005.
(6) Entschließung vom 11. Februar 1993. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 15.3.1993, Nr. C 72/118.

Erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, H. 7/8 (2014), S. 620-638.

 


Sophie Scholl musste weichen

Erinnerung an einen unbewältigten politischen Skandal

Als Hartmut Mehdorn an der Spitze der Deutschen Bahn stand, wurden alle ICE-Züge umgetauft. Personen der Zeitgeschichte mussten weichen. Dafür bekamen die Züge Ortsnamen wie Oschatz oder Jever. Früher gab es ICE-Züge, die „Stauffenberg“ hießen oder „Sophie Scholl“ oder die nach den Friedensnobelpreisträgern „Carl von Ossietzky“ und „Ludwig Quidde“ benannt waren.. Symbolgestalten des Pazifismus und des Widerstandes gegen das Naziregime störten anscheinend auf dem geplanten Weg der Bahn an die Börse. Beginnen sollte die Umbenennung mit dem Fahrplanwechsel am 15. Dezember 2002. Aber der Bahnvorstand hatte es eilig. Bereits sechs Wochen vor diesem Termin wurde der erste ICE auf den Namen „Berlin“ getauft.

Die Namen Stauffenberg und Sophie Scholl sowie Carl von Ossietzky und Ludwig Quidde wurden mit Rückendeckung der von dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder geführtern Bundesregierung entfernt. Eingesammelt und entsorgt wurden auch die in den Zügen ausliegenden Informationsblätter.Dabei hatte man einst die in Stockholm lebende Tochter Ossietzkys, Rosalinde, eigens zur festlichen Taufe eines ICE auf den Namen ihres Vater nach Berlin eingeladen.Auf ähnlich feierliche Weise war am 31. Mai 1999 in Bremen ein ICE nach Ludwig Quidde benannt worden. Der Präsident des Bremer Senats, Klaus Wedemeyer (SPD), rühmte den Sohn der Stadt dabei als mutigen Kämpfer gegen den Militarismus, als großen Historiker und streitbaren Demokraten. Den kenne doch sowieso keiner, scherzte später Wedemeyers Amtsnachfolger Henning Scherf (SPD), als am 12. Dezember 2002 im Bremer Hauptbahnhof der einstige ICE „Ludwig Quidde“ den Namen „Bremen“ bekam.

Am 18. Oktober 2008 wurde in Jever ein ICE auf den Namen des Bierstädtchens in der ostfriesischen Pampa getauft. Wieso ausgerechnet Jever? Nach offizieller Lesart sollte bei der Auswahl einer Patenstadt deren historische oder aktuelle Verbundenheit mit der Bahn eine wesentliche Rolle spielen. Aber Jever steht nicht einmal mehr im Streckenplan der bundeseigenen Bahn. Den Personenverkehr besorgt eine Privatbahn.Die eingleisige Nebenstrecke von Oldenburg nach Jever ist nur für eine Geschwindigkeit bis zu 80 Kilometern in der Stunde zugelassen. Für die Hin- und Rückfahrt des ICE wurde sie für den normalen Zugverkehr gesperrt. Ein Lotse ging an Bord, der den ICE immer dann halten ließ, wenn eine Schranke geschlossen oder geöffnet werden musste. Unterdessen stärkten sich in Jever tausend Schaulustige bei Freibier und Schnittchen für den Taufakt. Nachdem der Name „Jever“ enthüllt und ein Glas Jever-Pils über den Triebkopf des ICE geleert worden war, rollte das 100 Meter lange Gefährt auf Nimmerwiedersehen von dannen.

Zustande gekommen war die Posse, wie die Nord-West-Zeitung zu berichten wusste, durch Zufall auf einer privaten Geburtstagsfeier. Die Ratsvorsitzende von Jever, Margot Lorenzen, habe dort den Bahnbevollmächtigten Ingulf Leuschel kennen gelernt. Bei der Gelegenheit sei beiläufig vorgeschlagen worden, einen ICE nach Jever zu benennen. Was Oschatz betrifft, so ist den Verantwortlichen offensichtlich eine Panne der besonderen Art unterlaufen. Im Internet wird der Ort als „Sozialistische Gedenkstätte“ vorgestellt. Eine Tafel erinnere dort an den von den Nazis ermordeten Kommunistenführer Ernst Thälmann. Die Gedenkplatte hängt an einem Gasthaus, das den Gestapohäftling Thälmann 1943 bei der Überführung vom Gefängnis Hannover zum Zuchthaus Bautzen für eine kurze Rast beherbergte. Irgendeine Verbindung von Oschatz zur Geschichte der Bahn gibt es offensichtlich nicht.

Welche Gründe aber hatte der Bahnvorstand, die Namen von Symbolgestalten des Widerstandes gegen Faschismus und Militarismus zu entfernen? Mehdorn behauptete allen Ernstes, die Umbenennung sei aus Platzgründen notwendig gewesen. Aber Namen wie Graf Stauffenberg und Sophie Scholl entfernt man nicht aus Platzgründen. Zwar versicherte die Bahn, der Verzicht auf die Namen von Personen der Zeitgeschichte habe nichts mit einer „Nichtanerkennung dieser Personen“ zu tun; aber sie hielt ungeachtet aller Kritik an dem Argument einer „vereinfachten Namensgebung“ fest. Ein Blick auf die Liste der bisher verwendeten Städtenamen bestätigt, dass Platzgründe keine Rolle gespielt haben. Inzwischen gibt es ICE-Züge, die „Freie und Hansestadt Hamburg“ heißen oder „Ostseebad Warnemünde“ oder „Fontanestadt Neuruppin“. Sie nehmen nicht weniger Platz ein als „Sophie Scholl“ oder auch „Carl von Ossietzky“. Nein, diese Namen mussten weg, weil sie der Verdrängung der Nazi-Vergangenheit im Weg standen. Die Bahn sperrte sich ja auch gegen eine Ausstellung, die an die Mitschuld der Reichsbahn bei der Deportation jüdischer Kinder in die Vernichtungslager erinnert. Außerdem lag das Bubenstück im Trend der von Gerhard Schröder verkündeten Rückkehr Deutschlands zu Normalität.

Das ist es, was die Umbenennung zu einem andauernden politischen Skandal macht, den die deutsche Spaßgesellschaft immer noch nicht wahrgenommen hat. Der damals politisch unmittelbar verantwortliche Verkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) verschanzte sich hinter dem Aktiengesetz, das jede Einflussnahme der Bundesregierung auf unternehmerische Entscheidungen der Bahn verbiete. Der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, damals unter Vorsitz des Ex-Stasiunterlagen-Beauftragten Joachim Gauck, raffte sich auf Drängen des Verfassers dieser Zeilen am Telefon nur zu der gequälten Äußerung auf: „Dass auch wir diese Entscheidung zu bedauern haben, steht außer Zweifel.“ Zu einem öffentlichen Protest fehlte der Mut. Jahre später nahm Joachim Gauck tief bewegt als Bundespräsident in München den Geschwister-Scholl-Preis entgegen.

Anmerkung: Der Artikel basiert auf einem Aufsatz des Verfassers in Heft 2/2009 der Zweiwochenschrift Ossietzky. In der Süddeutschen Zeitung vom 1. März 2013 erschien dazu auf S. 15 unter der Überschrift „Vereinfachte Namensgebung“ ein Leserbrief von ihm.

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